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Der Schneider von Ulm.

marie versehen, daß der schmächtige Schneider die ungeheuren
Flügel so plötzlich und so gewaltig in Bewegung setzen würde.
Allein was war natürlicher als dieses? Er brannte vor Eifer,
seine Kunst zu zeigen, und hatte den Augenblick längst schmerz-
lich erwarte», wo die Flügel endlich ihre Dienste machen wür-
den. Kaum fühlte er also, daß sie festgeschnallt seien, so fing
er auS Leibeskräften mit beiden Armen zu rudern an, und da-
her die große Niederlage unter den überraschte»Zuschauern. Wie
eine Schafheerde, unter die der Wolf gefallen, stoben dieRathS-
herren auseinander, und die zu Boden geschleuderten krochen auf
allen Vieren so behend als möglich aus dem Bereiche der Flü-
gel, mit denen der Schneider trotz einem Telegraphen arbeitete,
indem er auf der Tonne unausgesetzt tolle Sprünge mit beiden
Füßen machte. Der Wind, welchen der Flügelschlaz verur-
sachte, war so heftig, daß der Staub aus allen seit Jahren un-
gekehrlen Enden und Ecke» des Saals und vom Boden aufwir-
belte, und die Papiere, welche auf der langen Sitzungstafel la-
gen, im buntesten Gewirre durcheinanderflogen.

Da half kein Befehl, kein Drohen und Schreien, aufzuhö-
ren. Der keuchende Schneider raste fort, bis der Boden der
Tonne unter seinen Füßen brach, und er bis an den Hals im
Fasse mit ausgebreiteten Fittigen gefangen stand.

Sv mußte er stehen,- bis die Flügel ihm abgenommen wa-
j ren. Indessen zog die redselige Versammlung die Frage in reif-
liche Erwägung, ob die Stadt mit Ehren den Schneider fliegen
lassen könne oder nicht? Sie ward einstimmig bejaht, nicht, wie
man vielleicht die boshafte Bemerkung machen möchte, weil die
Herren daS Jasagen gewohnt waren, sondern weil Alle von der
Ueberzeuzung durchdrungen wurden, daß durch die fragliche Er-
findung eineS Ulmer Kopfes fich die Stadt bei Seiner Majestät
den besten Stein ins Brett setzen müßte. Nur sollte zu größe-
rer Sicherheit des Gelingens der Schneider erst eine Probe sei-
ner Kunst im Freien geben. Dieser unmaßgebliche Antrag eines
! ehrenwerthen Mitgliedes der hochlöblichcn Raihsversammlung
wurde durch ungestümen Zuruf von allen Seiten sogleich ohne
Abstimmung beseitiget. Denn, sagten die Einen, durch einen
öffentlichen Probeflug verlöre die außerordentliche Erscheinung
den Reiz der Neuheit, (Einige Stimmen.- „Hört! Hört!") und,
fügten Andere hinzu, eS sei unbillig, noch länger in die Kunst
deS Schneiders krittliche Zweifel zu setzen. (Murren auf der
äußersten Linken.) Wenn er (der Schneider) hier nicht herum-
geflogen, so tragt nur der beschränkte Raum die Schuld; fie
hätten es ja doch mit den eigenen Augen gesehen, wie beide
Flügelspitzen bei jedem Schlage die Saaldecke berührten. (Stür-
mischer Zuruf: „Ja, ja! Nein, nein!") Auch müsse man in An-
schlag bringen, daß das Aufstiegen immer die größte Schwierig-
keit sei. Mache doch selbst der Vogel zu diesem Behuf« meist
einen kleinen Sprung, oder nehme einen kleinen Anlauf, oder
senke fich vorher von einer Höhe herab. Dazu biete der Münster-
lhurm gewiß Gelegenheit genug, sei er doch, obgleich unvollendet,
336 Fuß hoch. (Allgemeines Gemurmel. Einer ausdemCen-
trmn: „Gegen diese Verkleinerung müsse er energisch protestiren,
die Höhe de» Thurmes betrage 337 Fuß.") Ein Fuß mehr oder we-

Niger — das sei hier gleich. (Große Auftegung und heftige Verwah-
rungen.) Nun meinetwegen, fuhr der ehrenwerthe Redner fort;
allein angenommen, der Thurm mäße nur 336 Fuß, so fragt
er dennoch Jeden, ob nicht Gelegenheit genug geboten wäre,
fich den Hals zu brechen? (Einige: „Allerdings.") Hierauf be-
merkte Einer der zu Boden Geschleuderten: wer der Kraft des
Schneiders und seiner Flügel etwa kein Verttauen schenke, der
solle sich nur wie fie unter seine (des Schneiders) Fittige be-
geben; denn wep nicht hören wolle, solle nur fühlen! (Mehrere
Stimmen: „Hört, hört!") llnd übrigens glaube er, der König
müsse jedenfalls der Erste sein, der den neuen Beherrscher der
Luft fliegen sehe. iLanganhaltender Beifall.)

Genug, der langen Reden kurzer Sinn war dieser: der kühne
Luftcandidat solle durch seinen ersten Flug die Festlichkeiten der
guten Stadt Ulm zu Ehren deS allergnädigsten Königs undLan-
deSherrn krönen, und dafür auS dem Gemeindesäckel vorläufig
einhundert Gulden als Belohnung erhalten.

Joseph war vor übermäßiger Freude einer Ohnmacht nahe,
und nur die zärtlichen Blicke seiner Annamarie hielten ihn noch
aufrecht.

Ferner wurde ihm die hohe obrigkeitliche Bewilligung er-
theilt, durch die ehrlichen Hände der Stadtdiener unter den neu-
gierigen Zuschauern eine Geld-Sammlung vor der Produktion
veranstalten zu dürfen.

Mit diesem schriftlichen Bescheide wurde er gnädigst entlas-
sen ; seine Flügel aber bis zum Ehrentage auf dem Rathhause
wohlverwahrt unter Schloß und Riegel gelegt.

Die stolze und glückliche Annamarie durste das blanke Geld
in ihrer Schürze tragen, und nachdem Joseph die hohe obrig-
keitliche Bewilligung sich auf den Hut gesteckt hatte, nahm er
die holdselige Braut beim Arm, und schritt vergnügter als ein
König in die uns wohlbekannte Dachkammer zurück.

iFortsetzuag folgt.)
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Schneider von Ulm"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

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Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Stauber, Carl
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Paar <Motiv>
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 3.1846, Nr. 70, S. 172
 
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