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Willys Geburtstag.

reich zu meiner lieben Mama! Daß ich ein Engel werden soll,
hat er nicht gesagt, — und er wüßte es doch ganz gewiß!" —
„Aber meine Mutter weiß es auch! Und wie sie mir den Bilder-
bogen gegeben hat, hat sie mir gesagt: Schenk' ihn nur dem armen
Willy. Der kann nicht wieder gesund werden und wird nun bald
ein kleiner Engel sein!"

Warum ihm nur der Papa davon nichts gesagt hat? Es ist doch
gewiß etwas so Schönes, ein Engel zu werden und der Papa müßte
doch eigentlich sehr froh darüber sein. Ob er wohl so aussehen
wird, wie der krausköpfige Engel am Kachelofen, oder ob er ein
Paar so schöner, weißer Flügel bekommen wird, wie der Engel über
der Kirchhofsthür? Wer ihm nur hatte Antwort geben können
auf all' die hundert Fragen, die sich plötzlich in seinem Köpfchen
drängten! Und auch die kleine Marie denkt sehr ernstlich über den
Gegenstand nach: aber ihr Borstellungsvermögen reicht nicht weiter
als das seinige, und sie nimmt sich vor, ihm morgen genauen Be-
richt zu erstatten, nachdem sie die Mutter noch einmal gefragt haben
wird. Aber da schießt es ihr plötzlich durch den Sinn und gibt ihr
einen Stich in's Herz: „Wirst Du denn auch noch herunter-
kommen, mit mir zu spielen, wenn Du ein Engel bist?"

Er nickt ein paar Mal mit dein Kopfe und streichelt mit den
mageren Fingerchcn ihre runde, weiße Hand, die auf dem Deckbett
liegt; doch auch ihm zeigt sich da plötzlich eine neue Verwickelung:
„Ja, wenn ich nun aber nicht kommen darf? Ich glaube, die
Mama darf auch nicht kommen, sonst wäre sie sicher schon dagcwcsen.
Und das Himmelreich ist ja so sehr weit! — Wenn ich auch den
lieben Gott recht schön bitten wollte, ich glaube, er läßt mich doch
nicht fort!" — Und seltsam, erst in diesem Augenblick durchzuckt es
die beiden reinen Kinderseelen wie eine dunkle Ahnung von der
furchtbaren Bedeutung jener Trennung, auf die es kein Wiedersehen
gibt; erst in diesem Augenblick hat das Gespenst deS Todes, das
schon seit Stunden starr und unbeweglich auf der Schwelle des
'seinen Zimmers steht, etwas Drohendes und Beängstigendes für
Die kleine Marie ist cs, die zuerst zu schluchzen anfängt; dann
Aminen auch dem kranken Willy die Thränen heiß in die
^3en, und Wange an Wange geschmiegt, liegen ihre Köpfe auf
^Kissen, das sich allmählich netzt von ihren Zähren.

„„ kommt die alte Lise herein, und sie ist sehr böse über die
Kinder.

nur lieber zu, daß Du nach Haus kommst!" führt sie
wüte^° an. „Kannst doch nichts
Und \ Hellen als Dummheiten! —
m.rf, °?.3iegensutter hier kannst Du
Uch gleich nieder mitnehmen!" —

Aber wie sch Me a[umen ,nit ihrer har-
en braunen §anb üom sgert wegwischen
imtt, legt Wil^ schätzend seine beiden
Aermchen darüber, und sie brummt
etivas für sich hin'und läßt sie liegen.

- Die kleine Marie aber hat sich ganz
still und eingeschüchtert zur Thür hinaus-
geschlichen. Draußen auf der Diele,
hinter der großen, alten Standuhr ist
ein dunkles Winkelchen. Dahin setzte
sie sich, nimmt die Schürze vor die Augen
und weint bitterlich vor sich hin. — Die
Life wäre gern ein Weilchen zur Gesell-
schaft bei dem Kleinen geblieben: aber

sie hört draußen in der Küche die Stimme der Gemüsefrau, und die
Gemüsefrau ist ihre gute Freundin, die immer allerlei aus der
Nachbarschaft zu erzählen lveiß, da muß sie doch erst schnell einmal
Hinausgucken. Dem Kleinen thut's nach der Aufregung, die er von
dem dummen Mädel gehabt, gewiß auch am Besten, wenn er ein
wenig allein bleibt, und so schlürft sie denn auch auf ihren ans-
getretenen Pantoffeln wieder davon.

Der kleine Willy ist müde, ach, so müde! Die Arme sind ihm
so schwer, daß er sie nicht einmal nach dem Bleisoldaten auszustrecken
vermag, der bei dem rauhen Angriff der alten Lise ein wenig zur
Seite geglitten ist. Willy mag auch den Kopf nicht mehr umwenden
und schaut nur immer unverwandt auf den weißen Engel am Kachel-
ofen. Wenn doch die kleine Marie auch ein Engel würde! — Ja,
freilich, das wäre eine Freude! Wie schön tvvllten sie dann mit
einander spielen vom Morgen bis zum Abend, und wie wollte er
den lieben Gott bitten, daß er den Papa auch bald Nachkommen
ließe in das Himmelreich! Warum er nur ganz allein fort soll
auf eine so große, weite Reise, und er fühlt sich doch so schwach
und so sehr müde!

Der warme Sommerwind hat das leicht angelehnte Fenster auf-
gestoßen und ein frischer würziger Hauch streift auch über Willy's
Bett. Ein Schmetterling, ein kleiner, weißer, unscheinbarer Schmetter-
ling, ist mit hereingeflvgen und gaukelt eine kleine Weile um dasRosen-
bouguet auf dem Tischchen. Aber er setzt sich auf keine der prächt-
igen Bliithen, er wühlt sich ein Margarethenblümchen aus Mariens
Strauß zum Ruhesitz. Des kranken Kindes Blicke hängen mit selt-
samem Ausdruck an jeder Flügclbcwegung des Thierchens. Seine
Augen sind jetzt ganz erfüllt von dem feuchten Schimmer der Ver-
klärung, und er hat keine Furcht mehr vor der großen, weiten
Reise, die er so ganz allein antreten soll. Der Schmetterling
ist wieder aufgeflogen und hat sich ohne Scheu auf die kleine,
kühle Hand gesetzt, die selber fast so tveiß und durchsichtig ist wie
ein Blüthenblatt. Bon draußen her klingt aus einiger Entfernung
in verschwimmcnden Tönen eines Drehorgelspielers einfache Weise
herein, — sonst aber ist alles still.

Des Schmetterlings Flügel beben leise, und seine Fühl-
hörnerchcn bewegen sich unaufhörlich, als könne er es gar nicht
glauben, daß die kleine Hand, auf der er sich niedergelassen, wirklich
immer kälter und kälter wird.

lind die Sonne kommt endlich hinter der hohen Hauswand, die
sie so lange zurückgehaltcn, zum Vor-
schein. Ein breiter, lichter Streifen
ergießt sich über die Lagerstätte, um-
fluthet das blasse Gesichtchen und küßt
die welkenden Wiesenblümchen auf der
Decke. Der Schmetterling spannt die
zarten Flügel aus und schwingt sich
empor; aber im Fluge streift er so dicht
über die halbgeöffneten Lippen des fried-
lich lächelnden Kinderantlitzes, als wolle
er den letzten unmerklichen Hauch mit
sich fortnehmen in eine weite unbekannte
Ferne. Dann fliegt er zum offenen
Fenster hinaus, dem Lichte entgegen.

Als aber die Lise wieder in's Zim-
mer kam — da war der kleine Willy
gestorben.

!!. {Irfimmtr:

14*
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Willys Geburtstag"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Schneider, Hermann
Entstehungsdatum
um 1885
Entstehungsdatum (normiert)
1880 - 1890
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 82.1885, Nr. 2071, S. 107
 
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