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Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0029
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i. KAPITEL

DIE BRÜDER UND SCHWESTERN
DES FREIEN GEISTES

Am 12. Juni 1411 wurde der Karmelitenfrater lüiEew Mn HiMernEjerz vor das bi-
schöfiiche Gericht zu Kameryk gesteiit. Er war ein Haupt der Brüsseier Howzwes inteEi-
gCMfüe, in deren Führung er siA mit Aegiah'MS C^nfor, einem sechzigjährigen Laicn teilte.
Eine ausführiiche Anklageschrift von 21 Punkten, weiche die Irrungen AegzJzMs Cuniors
und seiner Anhänger zusammenfassen, ergänzt durch eine zweite, die in 18 Punkten dem
Mönche seibst zur Last gelegte Irriehren verzeichnet, vermitteit uns ein ungewöhniich in-
dividueiles Biid eines häretischen Gemeinschaftsiebens, gruppiert um die zentraie Vorstel-
iung des „Paradieses", das eine adamitische Erotik ais ketzerisches Lehrgeheimnis in sich
schiießt.

Die HoTTzhw zählen zu einer seit dem 13. Jahrhundert das Abendiand

durchziehenden häretischen Bewegung, die — ohne sich zu einem festeren Zusammenhalt
zu schiießen — im deutschen Sprachgebiet besonders in den Gegenden des Rheins, von
Basei, Straßburg, Mainz und Köln bis in dieNiederiande ausgebreitet war: den Brü-
dern und Schwestern des freien (oder hohen) Geistes, so benannt,
weii sie sich als Inkorporation des heiiigen Geistes und durch dessen Kraft zu einer Geist-
voiikommenheit erhoben fühiten, die auch im Fleisch und seinen Lüsten nicht mehr zu <
sündigen vermag, und demzufolge schon auf Erden im Unschuldsstand des Paradieses iebt.

Ais logenartige Mysterienbünde erscheinen die Freigeist-Gemeinden nach außen hin
devot getarnt, nach innen einer Gnosis zugeschworen, die sich ais Kreuzung des platoni-
schen Eros mit der johanneischen Agape erweist. Ihre Mitgiieder waren Laien beiderlei
Geschiechts und aiier Stände, vor ailem jene haibgeistlichen Uberfrommen: Tertiarier, Be-
gharden und Beghinen, weich ietztere in ihren stilien Höfen den Freien Geist derart gewäh-
ren iießen, daß sie dem Richtspruch des Konziis (Vienne 1311) verfieien.

Ihre gemischt-geschiechtiiche Verfassung hebt die Freigeist-Gemeinden von den soziai-
caritativen Bruder- oder Schwesternschaften ab, die hier die Männer, dort die Frauen
separat zusammenfaßten, wie auch in beiden Fäiien die BezeiAnung „fratres" und „soro-
res" eine untersAiediiche Bedeutung hat. Dem übertragenen Sinn von „Glaubensbrüdern",
die durA freiwiiiige Armen- oder Krankenpflege, Witwen- und Waisenhilfe oder Toten-
Wartung ihren Reiigionsgenossen dienstbar sind, tritt die ursprüngliche Bedeutung von
 
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