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Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0147
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7. KAPITEL

DIE FOLGERUNGEN
Die Dö/e/e Jcj

Um das Gemätde bis zum Ietzten Winkel zu durchdringen, treten wir an das einzige,
noch unbesprochene Motiv heran, das sich zu tiefst im rechten Vordergrund so gut ver-
steckte, daß es bisher von Niemandem beachtet wurde. Innerhalb des streng esoteri-
schen Ideenkreises des Dreitafelwerks darf ohne weiteres vermutet werden, daß dies Ver-
stecken das letzte Siegel einer noch zurückgehaltenen Offenbarung sei. Je heimli&er, desto
geheimnisvoller, je tiefer eingegraben, desto wertvoller der Schatz und je behüteter der
SAIüssel, desto enthüllender der Einblick in die Kammer, falls ihre Aufschließung trotz aller
SiAerungen glückt (Tafel X/a u. ß).

Tatsächlich ist es ein geheimnisvoller "Winkel, der uns dort erwartet, da er in eine von
Kristallen eingehegte H ö h I e führt. Zur Linken ist, gleiA einer Säule, ein gewaltiges Le-
bensIiAt erriAtet: eine Kerze, die — wiederum mit Immergrün umwundcn — sich als ein
Ableger des nachbarlichen Phallus zu erkennen gibt, zumal ihr oberes Ende in das Kristall-
gewölbe eines Eies übergeht. In diesem sitzt, von Samenperlen rings umflittert, eine N e -
belkrähe. Von oben schüttet eine zweite aus einem FläsAchen, das ihr SAnabel hält,
eine breit aufsAimmernde Flüssigkeit in das Ovarium hinein: ein Vorgang, der in BosAs
gewohnter GleiAnisspraAe die Begehung einer AymisAen HoAzeit zu bedeuten hat.

Der Zugang in die Höhle war bisher von einer wölbigen Kristallscheibe versAIossen.
Nun aber ist das gläserne Portal zur Seite abgesunken und gibt den Einblick in die Felsen-
kammer frei. Auf ihrer Schwelle liegt ein nacktes Mädchen, das seinen ringellockigen Blond-
kopf mit dem Ausdruck lausAender Erwartung in die Linke stützt. Der Apfel, den sie in
der Rechten hält, kennzeichnet sie als neue E v a, während ein zweites merkwürdiges Attri-
but sie zur S i b y 11 e stempelt: Auf ihren Lippen sitzt ein Siegel, das sie zur Wahrerin ge-
heimen Wissens macht'.

Mit der Kristallscheibe, die ihren Leib umwölbt, ist sie durA dessen seltsame Verzierung
— fünf Zirkeln mit betontem Zentrum — in einem sympathetischen Rapport gesetzt.
Vier dieser Kreise sitzen auf arteriell betonten Punkten ihres Körpers. So überm Puls der
reAten Hand, den SAlagadern der beiden Ellenbogen und der HalssAIagader, während
der fünfte ihre linke Brust umgrenzt. Nun kennen wir bereits aus der pulsfühlenden Ge-
 
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