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Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0148
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128

DIEFOLGERUNGEN

bärde des Wettschöpfers im „Garten Eden" und den zwei anderen Beispielen die außer-
ordentliche Verehrung, die das Blutgeheimnis im Jüngerkreis des Freien Geistes
fand. Ein echt pythagoräischer Zug, dessen erneute, ärztiich noch umfassendere Unterstrei-
Aung die bereits bei zUgz'A'MS C^Mtor aufgetauAte Tatsache beiegt, daß bei den Brüdern die
antike Überlieferung des Priesterarztes, dieses Ideals von Heifer in allen seelischen und kör-
perliAen Nöten, noch iebendig war.

Über der adamitischen Sibylle, die uns trotz ihres Lippensiegeis mancherlei verriet,
taucht eine äußerst fesseinde Gestalt empor. Denn unter all den hundert Nackten ist die-
ser Mann der einzig Angezogene und obendrein in unterstrichener Strenge bis zum Hais
verhüilt. Wo ringsum iauter ideaitypische Menschen, gieichmütige Biondköpfe und eigen-
lose Seeien abgebildet waren, von denen Zwölfe auf ein Dutzend gehn, briAt hier ein Indi-
vidualitätsbewußtsein so unaufhaltsam, frisA und klar zu Tage, als ob in dieser abgeschie-
denen Felsenhöhle die Queile einer neuartigen MenschensAau entsprungen sei.

AHein die eigenwillige Frisur des Schwarzkopfs: der scharfe Zwickel in der hohen Stirn,
der diese gleichsam zu der Energie des maskulinen „M" zusammenzieht, hebt sein GesiAt
von allen anderen ab. Dazu zwei kohlpechschwarze Augen, die mit starrer Stetigkeit und
zwingender Beherrschung auf ihr Ziel gerichtet sind. Die Nase ungewöhnlich lang und kühn
geschwungen. Ein sinnlich breiter Mund, in dem jedoch die Lippen gradlinig gesAIossen und
in den Winkeln wie punktiert ersAeinen, was jenen Zug von willensmäßiger Beherrschung,
die seine Augen sAon bekundeten, verstärkt. Ein außerordentliA faszinierendes GesiAt,
das an berühmte Köpfe, besonders an MacAiavell, gemahnt, wie denn der ganze Zuschnitt
dieses Kopfes einen welschländisAen Zug verrät, als ob der Dargestellte auf italienischen
Akademien dieses franke, forsAende und überlegene Gebaren angenommen habe.

Während der rätselhafte Mann mit seinem rechten Zeigefinger, wie wenn er etwas
sehr Bedeutsames bekunden wolle, auf die neue Eva weist, erscheint links hinter ihm, auf
gleiAer Höhe mit der Nebelkrähe im kristallenen Käfig, ein zweiter Kopf, der seine SAIäfe
zutrauIiA zu dem dunklen Partner neigt. Wo dessen Antlitz einen welsAen Anflug hatte,
trägt dieses zweite — ein kraftvolles und sinnlich sAönes, von sAwarzem Lockenhaar um-
rahmtes, tief dunkeläugiges Frauenantlitz — ganz fremdländisches Gepräge, wie es in eigen-
tümlich runder Modellierung aller Züge, mit feucht schimmernden, stiilen Blicken uns ent-
gegensAaut. Im gleiAen Winkel wie die weggesAobene Kristalltür vorgeneigt, die also nur
der Präsentation des Paares wegen aus den Angeln rückte, gehören diese beiden Menschen
wie Braut und Bräutigam zusammen, wie denn die Braut ihr Binnenleben: das kristallene
Ovarium in dieser Stunde mit dem Lebenslicht des Bräutigams vermählt.

Damit ersAließt sich die grundlegende Erkenntnis, daß die Verklärung einer Hochzeits-
feier der Anlaß dieser unerhörten Schöpfung war, in der das ganze AH zu Lobpreisungen auf-
geboten wurde, wie sie kein Königspaar an seinem Trauungstag vernommen hat. Je tiefer
wir in den symbolisAen IdeenreiAtum dieserTafel drangen, desto bestürzter müssen wir
nun fragen, wer dieses gottähnliche Paar gewesen sei, das einen solAen in das Kosmische
 
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