Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0108
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6. KAPITEL

DAS TAUSENDJAHRIGE REICH

Das Zeitalter des heiiigen Geistes ist angebrochen, das enMnge/zMW MeternMn? Fieisch und
Blut geworden in unzähiigen Erweckten, die schon auf Erden einen paradiesischen Urstand
feiern. Der in der Morgenröte schiank emporgestiegene Garten Eden mit dem ersten
Menschenpaar entfaltet sich zur Mittagshöhe einer überwäitigenden Sonnenkraft, die aiien
Gegenständen eine satte Füiie und tiefieuchtende Farbigkeit verieiht. In einem tropisch
wundersamen Fior ins Riesige gediehener Erdfrüchte und Gewächse flirrt die Bunt-
scheckigkeit gigantischer Vögel, seltsamer Giasgehäuse und botanischer Architekturen, vor
deren Farbenschmeiz das Inkarnat der menschiichen Gestaiten in seiner blütenhaften Hei-
iigkeit, durchsichtig und gewichtios, wie ein Schwarm von weißen Faitern schwebt. Dar-
über kreist ein triumphaies Karussell einheimischer und fremdiändischer Tiere, auf denen
eine übermütige Mannschaft einen Jungbrunnen umreitet. Dann dehnt sich zwischen
braunen Wäidchen dieser Wiesengrund zu einem Vasserspiegel, aus dem — haib Weit-
kugel, halb giitzernde Phiole — ein Abieger des Lebensbrunnens ragt. Vier Felsgebilde
üppigster Monstrosität umfestigen die Gartentiefe, die bis zum fernsten 'Vinkei von den
Lustbarkeiten menschlicher Gruppen oder Einzelpaare überquiüt, wie auch der Luftraum
noch von abenteuerliAen Fiugwesen bevöikert ist. Vor diesem überschwängiich reiAen Pa-
norama fragen wir zunächst, von wo aus und in weiAer RiAtung wir die Tafei abzuiesen
haben. Denn auf den ersten Biick verwirrt uns dieses Vieieriei geruhsam beieinander weiien-
der oder im Übereifer durcheinander rudeinder Figuren umso mehr, ais ihre Tätigkeit dem
gieichen Einerlei verwunderlicher Liebeskuite giit (Tafei V).

Ais eindrucksvoiie Mitteiachse iagert der Lebensbrunnen in dem Bildgefüge. Seinem
senkrechten SchwergewiAt entspricht eine horizontale Giiederung der Tafei, in der drei
Zonen deutiiA unterscheidbar sind: Die erste, dunkeigründige Zone wird von dem sattei-
förmig eingesenkten Waldsaum abgeschiossen, der dem Triumphzug ais Umzäunung dient.
Die foigende entfaitet siA in lichtem Wiesengrün und wird naA oben durch die Wagrechte
begrenzt, weiAe das Festland von dem Seespiegei des Lebensbrunnens und dem Geviert
der Felsgebiide trennt. Die dritte Zone ist ein Übergang zwischen der Erde und der Him-
meishöhe, die von Eiementargeistern und Genien durAfiogen wird.

Diese Dreistufengiiederung ist kiar hervorgehoben. DoA scheint ihr jegiiche formaie
Auftriebskraft und zieistrebige Lenkung zu ermangein, da die Figuration der unteren Ta-
 
Annotationen