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Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0073
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KAPITEL

DIE HOLLE

Mitten im Höliengrund steht, übergreli belichtet, in seinen Umrissen scharfkantig und
zerspciit, ein Ungeheuer (Tafel V). Auf Füßen, die in großen Kähnen stecken, erheben sich
zwei SAenkel, die als zermorschte Baumstämme gezeichnet sind. Ein Ubergangsgelenk, haib
Knie, halb Ellenbogen, führt zur Schuiter, von der sich uns ais Rumpf des Höilgespenstes
ein aufgepiatztes Riesenei entgegenwölbt. Durch seine leichenfarbene Schale ist dürres Ast-
werk beider Beinstrünke hindurchgedrungen. Über die Schulter wendet sich der Kopf zu-
rück. Aus seinem fahien und trübsinnigen Gesicht schweifen zwei Augen, die uns nicht be-
gegnen, durch die Höiiennacht. Als Kopfbedeckung trägt das Ungeheuer eine Scheibe, auf
der ein rosaroter Dudeisack von buhierischen und vermummten PärAen zeremonieii um-
wandelt wird. Verkleinert kehrt der gieiche Dudeisack auf einer Fahne wieder, die über dem
zersprungenen Ei befestigt ist. Das Innere des Eies ist ein Nobiskrug: eine phantastische
Schenke, worin, vom Feuerschein umflackert, an einem kahlen TisA drei Gäste vor der
Kanne sitzen, indes die Höllenwirtin eine neue aus dem Faße zapft. Ein Mann, der diesen
Spuk sAon satt bekam, lehnt an dem Rand der Schale und sAaut hinunter auf das eis-
bedeckte Wasser, in dem die Schiffspedale des Gespenstes eingefroren stehen. AIs Ganzes
wäre dieses seltsame GewäAs am ehesten mit einer E n t e zu vergleichen, die ihren schwer-
fällig hintüberhängenden, gedrungenen Rumpf auf ungeschickte, krumme Beine stützt.

Bis heute blieb das Monstrum unerklärt, das — wie so viele unenträtselte Symbole un-
sres Malers — nur als Ausgeburt einer dämonomanisAen Zwangsvorstellung betrachtet
wurde. Es mochte dabei sein Bewenden haben, solange man auch an dem tiefgründigen Sinn
des Lebensbrunnens verständnislos vorbeigegangen war. Seitdem wir aber dessen magische
Funktion und spiritualistisAe Bedeutung nachgewiesen haben, wächst der Zentralfigur der
Hölle zwangsläufig eine gleiAgewiAtige Bedeutung zu. Denn beide stehn als Bild und Ge-
genbild einander gegenüber, wie ihre Umwelten in folgerichtiger Antithetik von einander
abgehoben sind.

Ein erster Gegensatz besteht darin, daß sich die Präsentation der Paradiesfiguren in
reiner VordersiAt vollzieht, während wir das Phantom von hinten sehen. Dort offene Ur-
ansichten göttliAer VoIIkommenheit, hier mannigfach verquere SiAten einer von ihrer
 
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