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Fraenger, Wilhelm
Hieronymus Bosch "Das Tausendjährige Reich": Grundzüge einer Auslegung — Coburg, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.29109#0134
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DAS TAUSENDJAHRIGE REICH

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a.us, als eine Blume aus <Jer Erde, aus deinem wiiden Tier. Höre, mein
Tier: Ich bin größer als du, und als du solltest werden, da war ich dein Werkmeister. Meine
Essenzien sind aus der Wurzel der Ewigkeit. Du aber bist von dieser Welt und zerbrichst. Ich
aber Iebe ewiglich. Darum bin -ich viel edler als du. Meine Werke stehen in der K.raft, die
deinen bleiben in der Figur. Ich nehme dich dann nicht mehr zum Tiere an. Ich will deine
vier Elementte nicht mehr haben, der Tod verschlingtdich. Ich aber grüne mit meinem
neuen Leibe aus dir, als eine Blume aus seiner 'Wurzel."

*Wo immer wir auf dem Altar ein Antlitz finden, das aus der selbstgenugsamen Ver-
sponnenheit der Gruppen unmittelbar auf den Beschauer blickt, hat dieses Streben nach
Kontakt als pädagogischer Appellzu gelten. Besonders eindrucksvoll geschieht
dies bei dem tiefversonnenen Blick, den eine Frau des rechten Vordergrundes auf uns hef-
tet. Sie sitzt vor einer großen Blüte, aus derem Inneren ein ganzes Bündel Samenperlen auf
die Erde rollt. Aus dieser wahllosen Verschüttung, die ein weitüber vorgebeugter Jüngling
andächtig belauscht, hat sie ein einziges Samenkorn herausgegriffen. Sie hebt es mit der
linken Hand empor und zeigt es dem Beschauer so bedeutungsvoll, als ob sie ihm das „ww??!

der adamitischen Eugenik demonstrieren wolle: die Lehre, daß die quintessen-
zielle Lebenskraft ein ebenso natürliches wie göttliches Geheimnis — gleich Essenoder
Trinken — in sich berge, daher nicht bloß der Zeugungsabsicht oder Leibesnotdurft
dienen dürfe, sondern als eine heilige cowtnMwio mit den Wachstumskräften des Himmels
und der Erde zu verstehen sei.

Die Frage, ob die Brüsseler Seraphine ihren Satz, daß ewzw <!ctKr est p%re
tMr^Er, ticüt cowedere et H^ere" (8) nicht in solch edlem Sinne verstanden habe, läßt sich
auf Grund des Bildmotives klar bejahen. Denn Bosch hat zu dem Jüngling, der das Samen-
wunder anstaunt, einen zweiten, gleichartig Vorgebeugten in Korrespondenz gesetzt, der
eine riesenhafte Erdbeere zu Munde führt. Der mit dem höchsten FreiungszeiAen, einem
phantastisAen Blütenhelm mit paariger Frucht, gekrönte Adorant zeigt eine Haltung, als
ob er in der kolossalen Frucht den Erdball selbst umschlingen und verschlingen wolle, gleich
Antäus, der aus der Erdumarmung immer neue Kraft bezog. Als Gegenstück links drüben
dient der Blütenkrug, aus dem ein Mädchen den Geliebten tränkt: ein Vorgang, den der
Maler schon durch seine ausdrucksvolle Profilierung zu einem rituellen Weiheakt gestei-
gert hat.

Die Symbiose mit den mannigfaltigsten Gewächsen kennzeichnet diese Adamiten in so
hohem Maße, daß sie wie eine ausgesprochen Pflanzenmenschheit wirken. Wir
führen diesen vegetarischen Charakter auf das freigeistige Erziehungsideai zurück, insofern
eine Pädagogik, die siA auf die Heiligung des Lebensursprungs gründet und die Zurück-
gewinnung einer .pflanzenhaften UnsAuId der Geschlechtlichkeit erstrebt, notwendig einen
MensAentypus züAtet, dessen Wesen mehr durA vegetabilische Passivität, als animalische
Aktivität bestimmt ersAeint.

Beim Menschenschlag der „Pädagogischen Provinz" gilt nur die Gattung und die Art,
 
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