ERSTER ABSCHNITT.
Die mykenische Epoche.
(Tafel II. III. IV, obere Hälfte. VI, 1—19. LXI,
Erst im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte sind wir mit einer Epoche der Glyptik
näher bekannt geworden, die, nach einem Hauptfundorte die mykenische genannt, sich nun
als eine ganz glänzende, ja grossartige Erscheinung innerhalb der Geschichte dieses Kunst-
zweiges kund giebt. Grossartig- nicht durch die Geduld in der mühevollen Ueberwindung
von Schwierigkeiten, nicht durch minutiöse Sorgfalt in der Ausführung — diese Vorzüge, die
wir an den frühbabylonischen Cylmdern schon bewunderten, sind der mykenischen Glyptik
und überhaupt der mykenischen Kunst ganz fremd —, aber grossartig durch die jugendliche
Frische, die Lebendigkeit und Originalität in Auffassung und Darstellung.
Es ist ein von jenem orientalischen völlig verschiedener Geist, dem wir hier begegnen.
Hier herrscht frische Freude am Leben und Freude am Darstellen und Schildern der ein-
fachen Wirklichkeit. Die dumpfe drückende Atmosphäre des Orients ist einer klaren heiteren
Luft gewichen; konnten dort nur symbolische, bedeutungsvolle, doch unwahre und konventionell
gebundene Typen entstehen, so gedeiht- hier die lebensvolle Wiedergabe des Wirklichen.
Auch das Dämonische und Göttliche wird nicht übertreibend übernatürlich, sondern menschlich
einfach geschildert. Hier steht der Mensch nicht angstvoll zitternd, stumm ergeben der
Uebergewalt irdischer und überirdischer Herrscher gegenüber wie im Orient -— hier blickt
das Auge vertrauend frei, geniesst und spiegelt Lebensfreude wieder.
Was die „mykenische" Kunst von der orientalischen unterscheidet, das ist aber nichts
anderes, als was die Verschiedenheit der griechischen Kunst von jener des Orients aus-
macht: es sind die innersten besten kräftigsten Triebe der Eigenart griechischer Kunst, denen
wir schon in der mykenischen Epoche begegnen; sie haben hier ein prächtig frisches junges
Grün erzeugt; — wir werden sehen, dass der weiteren Entwicklung dann manche widrigen
Elemente entgegentraten, bis die ursprüngliche Natur wieder neu durchbrach und nun immer
höhere Vollendung erreicht ward.
Wir betrachten die „mykenische" Kunst als einen Teil, und zwar den ältesten der
griechischen Kunst. Ihr wesentlicher Charakter, auf dem ihre weltgeschichtliche Bedeutung
Die mykenische Epoche.
(Tafel II. III. IV, obere Hälfte. VI, 1—19. LXI,
Erst im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte sind wir mit einer Epoche der Glyptik
näher bekannt geworden, die, nach einem Hauptfundorte die mykenische genannt, sich nun
als eine ganz glänzende, ja grossartige Erscheinung innerhalb der Geschichte dieses Kunst-
zweiges kund giebt. Grossartig- nicht durch die Geduld in der mühevollen Ueberwindung
von Schwierigkeiten, nicht durch minutiöse Sorgfalt in der Ausführung — diese Vorzüge, die
wir an den frühbabylonischen Cylmdern schon bewunderten, sind der mykenischen Glyptik
und überhaupt der mykenischen Kunst ganz fremd —, aber grossartig durch die jugendliche
Frische, die Lebendigkeit und Originalität in Auffassung und Darstellung.
Es ist ein von jenem orientalischen völlig verschiedener Geist, dem wir hier begegnen.
Hier herrscht frische Freude am Leben und Freude am Darstellen und Schildern der ein-
fachen Wirklichkeit. Die dumpfe drückende Atmosphäre des Orients ist einer klaren heiteren
Luft gewichen; konnten dort nur symbolische, bedeutungsvolle, doch unwahre und konventionell
gebundene Typen entstehen, so gedeiht- hier die lebensvolle Wiedergabe des Wirklichen.
Auch das Dämonische und Göttliche wird nicht übertreibend übernatürlich, sondern menschlich
einfach geschildert. Hier steht der Mensch nicht angstvoll zitternd, stumm ergeben der
Uebergewalt irdischer und überirdischer Herrscher gegenüber wie im Orient -— hier blickt
das Auge vertrauend frei, geniesst und spiegelt Lebensfreude wieder.
Was die „mykenische" Kunst von der orientalischen unterscheidet, das ist aber nichts
anderes, als was die Verschiedenheit der griechischen Kunst von jener des Orients aus-
macht: es sind die innersten besten kräftigsten Triebe der Eigenart griechischer Kunst, denen
wir schon in der mykenischen Epoche begegnen; sie haben hier ein prächtig frisches junges
Grün erzeugt; — wir werden sehen, dass der weiteren Entwicklung dann manche widrigen
Elemente entgegentraten, bis die ursprüngliche Natur wieder neu durchbrach und nun immer
höhere Vollendung erreicht ward.
Wir betrachten die „mykenische" Kunst als einen Teil, und zwar den ältesten der
griechischen Kunst. Ihr wesentlicher Charakter, auf dem ihre weltgeschichtliche Bedeutung