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Ganz, David
Medien der Offenbarung: Visionsdarstellungen im Mittelalter — Berlin, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.13328#0131
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Schreibflüsse und Visionskritik

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neapolitanischer Herkunft zwar das gleiche Grundgerüst an historisierten Initialen,
aber jeweils eine andere Ausstattung mit ganzseitigen Bildern.74

Wie verhalten sich die kurz nach dem Tod Birgittas entstandenen Bilder zum
visionskritischen Diskurs sowohl der Prologe wie der Revelaciones selbst? Und
wie verorten sie die prophetische Schau der Autorin zwischen den Polen Bild und
Schrift? Ich verfolge diese Fragen zunächst an der Handschrift der Pierpont Morgan
Library.75 Durch Besitzeinträge wissen wir, dass sie aus dem Kloster San Girolamo
in Quarto bei Genua stammt, in dem Alfonso Pecha die letzten Jahre seines Lebens
verbrachte.76 Als Besteller des Kodex ist daher mit großer Wahrscheinlichkeit Alfonso
selbst anzunehmen.

Die erste Miniatur der New Yorker Handschrift ist ein echtes Eingangsbild, das dem
Text der Revelaciones vorausgeht (Taf. XXVIII).17 Ein sternenbesetztes Kreissegment
teilt die Bildfläche im Verhältnis von 2 zu 1 in ein himmlisches Oben, das in tiefem
Blau erstrahlt, und ein irdisches, mit Goldgrund hinterlegtes Unten. Oben haben sich
verschiedene Heilige, die Apostel und Patriarchen sowie die Engelchöre um Maria
und Christus versammelt, die gemeinsam in einer Mandorla thronen. Unten sitzt Bir-
gitta sinnierend vor ihrem Schreibpult, das Büchlein für ihre Aufzeichnungen auf den
Knien haltend, den Blick auf das himmlische Thronpaar gerichtet. Maria und Christus
wiederum senden mit ihrer Linken Lichtstrahlen auf das Haupt Birgittas nieder. Auf
ebenso faszinierende wie verwirrende Weise wird diese Darstellung erleuchteten
Schreibens links durch eine Messszene ergänzt, die einen Priester bei der Elevation
der Hostie zeigt. Über dem Haupt des Zelebranten ereignet sich ein eucharistisches
Wunder: Flammen sinken vom Himmel herab, über der Hostie wird eine nackte Figur
mit einem Spruchband sichtbar.

Die Szene links unten ist von der Forschung überzeugend auf Revelaciones VI, 86
bezogen worden, eine Erzählung, die berichtet, wie Birgitta bei einer Pfingstmesse eine
Feuererscheinung über dem Altar bemerkte und in der elevierten Hostie eine Reihe
von Christus-Bildern erblickte: ein Lamm, ein flammendes menschliches Antlitz, und
einen schönen Jüngling, der einen Segensgruß an die Umstehenden richtete.78 Doch
weshalb wurde diese Episode für das Eingangsbild der Revelaciones ausgewählt,
weshalb wurde die Inspirationsszene mit einem Messwunder kombiniert? In der
Gegenüberstellung der Szenen fällt eine Reihe von Ähnlichkeiten auf, die eigenstän-
dige Sinneffekte hervorbringen. So wird in beiden Fällen ein Sichtbarwerden Christi
dargestellt, der sich in Worten offenbart. Die gemeinsame Grundform von Altartisch
und Schreibpult suggeriert einen engeren Zusammenhang, ja eine innere Analogie der
beiden Orte und der sich darin abspielenden Handlungen. Der Ort der sakramentalen
Amtshandlung wird zum Vorbild für den Ort der inspirierten Schreibtätigkeit, der
Priester zur Leitfigur für die Visionärin stilisiert.

Versucht man, den Vergleich der beiden Szenen weiter durchzuführen, stößt man
aber auch auf irritierende Symmetriebrüche: etwa in der Behandlung der Feuer-
flammen und der Lichtstrahlen, die zwar beide aus der Himmelszone hervorgehen,
aber unterschiedlich weit in sie zurückreichen. Während die Vision am Altar auf
den intramundanen Bereich beschränkt bleibt, durchstößt das Strahlenbündel der
 
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