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Ganz, David
Medien der Offenbarung: Visionsdarstellungen im Mittelalter — Berlin, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.13328#0349
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284

KÖRPER-ZEICHEN

10.1 Ein Intervall der Unbestimmtheit

Die Stigmatisierung im Diskurs der Vitenliteratur

Das Wort von der „Neuartigkeit des Wunders", vom „seit Menschengedenken nicht
vernommenen Zeichen", mit dem Elia die Stigmatisierung in seinem Brief belegte,
ist in der jüngeren Forschung nicht unwidersprochen geblieben. Richard Trexler sieht
Elias Encyclica als Bericht über eine Selbststigmatisierung des Franziskus, und da-
mit über einen Vorgang, der um 1200 gerade in Mittelitalien gängige Praxis war.5 So
schilderte Petrus Damiani kurz nach 1060 den Fall des Eremitenmönchs Dominikus,
der nach intensiver Selbstgeißelung bei seinem Tod „die Stigmata Jesu auf seinem
Körper trug, und das Zeichen des Kreuzes nicht nur auf seine Stirn gemalt, sondern
auch von beiden Seiten auf alle seine Glieder eingedrückt hatte."6 Nichts anderes als
solche von Menschenhand zugefügten Wundmale, so Trexler, werde auch in Elias
Encyclica von 1226 bekannt gemacht. Die Überlieferung einer von transzendenter
Seite bewirkten Stigmatisierung des Franziskus sei erst das Produkt der späteren
hagiographischen Literatur.7

Kritisch besehen überzeugt Trexlers Beweisführung nicht. Denn das Neue, Uner-
hörte der Schilderung Elias musste für die Empfänger des Rundschreibens das völlige
Schweigen sein, das dort über den Verursacher der Wundmale gebreitet war: „Nicht
lange vor seinem Tod erschien unser Bruder und Vater als Gekreuzigter, der fünf
Wunden auf seinem Körper trug, die wahrhaft die Stigmata Christi sind."8 Wo ältere
Berichte über Selbststigmatisierungen stets die stigmatisierten Personen als Urheber
der Wundmale nannten, umschrieb das Verb apparere eine irritierende Leerstelle, ein
Fehlen des Kausalzusammenhangs zwischen den Stigmata und menschlichen Akten
der Verwundung.

In der ab 1229 einsetzenden hagiographischen Textproduktion - als wichtigste
Zeugnisse des 13. Jahrhunderts sind Thomas Celanos Vita prima (1229) und Vita
secunda (1247), die anonyme Legenda trium sociorum (um 1230/40) und Bonaven-
turas Legenda maior (1262) zu nennen - wird diese Leerstelle partiell aufgefüllt:
Die apparitio der Stigmata wird mit der visio des wundentragenden Seraph-Christus
verknüpft.9 Trotzdem - und hier wäre der eigentliche Denkanstoß von Trexlers The-
se zu sehen - eignet den Schilderungen der Stigmatisierung weiterhin ein Rest von
Unbestimmtheit, der nie ganz aufgelöst wird. Wer die verschiedenen Versionen der
Franziskus-Vita nebeneinanderlegt, wird eine große Zurückhaltung bemerken, den
Kausalzusammenhang zwischen der Vision des Seraph-Christus und dem körperlichen
Hervortreten der Stigmata lückenlos und eindeutig nachzuzeichnen.10 Von Beginn
an wird dafür gesorgt, dass ein zeitliches Intervall die beiden Ereignisse trennt." So
lässt Celano in der Vita prima einen längeren Prozess des Nachdenkens auf die Vision
folgen, da Franziskus „nicht wusste, was ihm diese Erscheinung mitteilen wollte"12.
Genau in dem Augenblick, in dem der Heilige feststellen muss, diese Frage nicht
beantworten zu können, „begannen an seinen Händen und Füßen die Zeichen der
Nägel zu erscheinen, wie er sie ein wenig zuvor an dem gekreuzigten Mann gesehen
hatte"13. Der Erkenntnisprozess des Heiligen spielt auch in Bonaventuras Legenda
 
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