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Ganz, David
Medien der Offenbarung: Visionsdarstellungen im Mittelalter — Berlin, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.13328#0014
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12

Einleitung

ein Nach-oben-Schauen zurückführte, war diese Wesensbestimmung des Menschen
als stets neu einzulösende Aufgabe gemeint.13 Als Normalzustand galt das, was Augus-
tinus den „caecus mente"14 nennt: der Mensch, der unfähig ist, das Wirken göttlicher
Vorsehung in der Welt zu erkennen.

In diesem Zwiespalt zwischen den Modalitäten menschlichen Sehens und gött-
licher Vorsehung fungiert die Vision als ein Mittleres, welches den Bereich des sonst
Opaken und Hermetischen für einzelne Menschen transparent macht. In Visionen lässt
Gott ausgewählte Empfänger an der höheren Visualität der „Schau" partizipieren.15
In göttlichen Offenbarungen teilt sich die Transzendenz der Immanenz mit, rückt
das Jenseits, wie Gregor der Große in den Dialogi formuliert, den Menschen näher.16
Aus dieser vermittelnden Funktion von Visionen - insbesondere der zahlreichen „Er-
scheinungen" des Auferstandenen, von denen die Evangelien berichten - leitet der
amerikanische Kirchenhistoriker Bernard McGinn das grundsätzliche Urteil ab, das
Christentum sei „eine Religion, die sich auf Visionen gründet."17 Akzeptiert man diese
Einschätzung in ihrer generalisierten Form - und dafür liefert die Visionsforschung
einige Anhaltspunkte - dann ist das herkömmliche Bild vom Christentum als einer
Religion des Gotteswortes und der Heiligen Schrift von Grund auf zu revidieren.
Das Wort, in dem sich Gott offenbart, ist allein nicht ausreichend. Es bedarf aus ver-
schiedenen Gründen einer komplementären Ergänzung durch Akte visionärer Schau:
Visionen holen die göttliche Rede aus einem unsichtbaren „Off an einen sichtbaren
Ort, sie statten die Bewohner und Boten des Jenseits mit Körpern aus, die konkrete
Gestaltmerkmale aufweisen, und sie liefern jene Bilder, an denen sich der Visionär
und die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Handeln orientieren sollen. In der
von Aleida und Jan Assmann entwickelten Religionstypologie verbinden Visionen
demnach das Prinzip „Schleierreligion" mit dem Prinzip „Offenbarungsreligion":
Als Repräsentationen des Göttlichen haben sie den Charakter einer schleierartigen,
semi-transparenten Hülle, welche Transzendenz erst sichtbar werden lässt. Als Bot-
schaften göttlichen Ursprungs haben sie den Charakter einer Offenbarung, die speziell
im Modus der Anschaulichkeit erkenntnisstiftend wirkt.18

Halten wir fest: Den Visionserfahrungen des Christentums liegt eine systematische
topologische Struktur zugrunde, sie sind unauflöslich an die Spaltung von Immanenz
des Sehens und Transzendenz der göttlichen Schau gekoppelt.19 Konstitutiv für die
Analyse von Visionen und ihren bildlichen Darstellungen ist die Kategorie der Gren-
ze, die im Moment der visionären Erfahrung überschritten wird. Dies bedeutet, dass
die Erfahrung der „Schau" sich auf der Reise durch das Diesseits an einem liminalen
Dazwischen abspielt, an ausgezeichneten „Schwellenorten".

Die Orte der Schau im Diskurs der mittelalterlichen Theologie

Der Ort der Bilder, so die heutige Bildwissenschaft, ist der Mensch selbst, ist sein
Körper und sein Gedächtnis.20 Genau in die gleiche Richtung argumentiert auch die
mittelalterliche Visionslehre: Das Reden über „die Vision" ist ein Reden über die
 
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