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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0121
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Architektur erfcheint diefe Epoche faft wie ein Zeitalter unbegrenzter Hoffnungen,
grenzenlofer Träume.
Auf den erften Blick möchten die architektonifchen Erfcheinungen gerade
diefer Zeit etwas Räthfelhaftes an fich zu tragen. War die Bauthätigkeit Franz I,
fo fragt man fich unwillkürlich, eine Art frevelhaften Leichtfmnes oder liegt darin
etwas fo Befremdendes, dafs es für die gewöhnliche Sinnesweife geradezu unerklär-
lich erfcheint? Erft wenn man fich die charakteriftifchen Hauptzüge der gefchicht-
lichen Seite diefer Epoche Frankreichs und ihre Verbindung mit den italienifchen
Verhältniffen vergegenwärtigt, treten auch viele architektonifche Erfcheinungen, wie
z. B. das Schlofs zu Chambord, in ein verftändliches Licht. Es dürfte daher nicht
überflüffig fein, diefen gefchichtlichen Rahmen hier kurz zu fkizziren.
Mit Recht können die Franzofen ihr grofses XVI. Jahrhundert das Siecle
de Francois I. nennen. Noch hörte man damals von jenfeits der Meere neu entdeckten
Welten; aber auch im alten Europa fchien Alles wieder jung zu werden. Cultur
und Künfte feierten das Bündnifs zweier geiftiger Welten: der mittelalterlichen mit
der neo-antiken, der gallo-germanifchen mit der griechifch-lateinifchen. In der
Religion dagegen begann bereits zwifchen der germanifchen und der lateinifchen
Gefühlswelt eine fchwere und verhängnifsvolle Trennung.
Auch für die Baukunft Frankreichs, ja ganz Europas, bietet das Zeitalter Franzi.
ein Bild, wie es wenig andere giebt. Die damalige Architektur Frankreichs ift das
Ergebnifs des innigften Bundes, der zwifchen den zwei reifften und edelften Stilen der
Chriftenheit, der franzöfifchen Gothik und der italienifchen Renaiffance, je gefchloffen
wurde. War auch die Gothik der Nationalftil aller Germanen, fo war doch diefe Bau-
weife in Frankreich am früheften gereift. Hier waren ftets ihre reinften Formen auf-
gegangen; hier muffte daher das Bündnifs der Gothik mit dem lebensfrohen, neu-
geborenen italo-antiken Stil am lehrreichften zu beobachten fein. Aus diefem Bündnifs
ging nicht allein eine Unzahl von Werken hervor, die durch Gröfse, Phantafie, Feinheit
und Verfchiedenheit der Richtungen ftets von Neuem überrafchen; fondern Franzi.
erlebte in den letzten zehn Jahren feiner Regierung noch eine zweite Umwandelung
in der Architektur: die Hoch-Renaiffance. Diefe reiffte Periode der franzöfifchen Bau-
kunft treibt noch vor dem Tode des Königs und auf feinen Befehl ihre edelfte Blüthe:
der Hof des Louvre zu Paris wird von Pierre Lescot und Jean Goujon begonnen!
Dem reich emporftrebenden Geifte, der ftets auf hohen Spitzen fchwebenden
Phantafie der gothifchen Meifter war plötzlich eine neue Sonne erftrahlt. In den
Gefilden Italiens war in blühender Jugendfrifche die Antike wieder erftanden, in
den Künften das unvergleichliche Symbol des klaren Leuchtens einfacher und ewiger
Wahrheiten. Das Bündnifs diefer beiden höchften Quellen der Kunft, der Sehnfucht
und der Offenbarung, einem Bunde zwifchen Jugend und Weisheit gleich, berückte
alle Herzen; es entftand eine Zeit unbegrenzter, ja unendlicher Hoffnung.
Nicht die Phantafie der gothifchen Meifter war, wie man leicht glaubt, damals
erfchöpft; der Stil war es felbft, die Gothik, die in ihren Händen vertagte, die
ihnen keine neuen Motive mehr bieten konnte. Der Geift der Meifter war wohl fo
frifch, ihr Können fo kräftig, wie zur Zeit der Früh-Gothik. Als ihnen defshalb
Italien einen neuen Stoff gereicht hatte, wurden fie auch wie mit einem neuen Feuer
erfüllt. Das Schlofs zu Chambord und Rabelais »Theleme«, die Kirche Sl.-Euftache
zu Paris, die P'aQaden der Kirche zu Tonnerre und St.-Michel zu Dijon, ja der ganze
Franzi beweifen dies. Allerdings gehört dazu auch ein Fürft, wie es Franzi, war.
 
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