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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0233
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216

Sympathie
für die
freien Formen
Michelangelo' s,

250.
Reaation
gegen den
akademifchen
Geift.

251.
Sympathie
für das
Vlämifche
und
Holländifche.

»Faft überall,« fagt Lemonnier, »fieht man in diefer Zeit eine Wiederaufnahme
des realiftifchen Geiftes. Faft überall trachtet man das Gefühl der eigenen Perfön-
lichkeit, feiner Zeit, feines Landes wieder zu erwecken.« Diefes Urtheil ift vollkommen
richtig. Auf dem Gebiete der bildenden Künfte wird in den nordifchen Ländern
die Rückkehr zum nationalen Element ftets zu einem gewiffen Realismus führen.
Auch die folgende Beobachtung ift ein Zeugnifs vom Erwachen des nationalen
Geiftes.
Die von einem Franzofen herrührende Bezeichnung der Zeit Heinrich IV. als
einer Epoche zwifchen der Renaiffance (nach franzöfifchen Begriffen das XVI. Jahr-
hundert) und dem triumphirenden Akademismus unter Richelieu und Ludwig XIV.
hebt ebenfalls eine andere Seite diefes Charakters hervor447). Denn in der Re-
naiffance fpielt die Antike, fo zu fagen, die befruchtende Rolle, und die Akademien
wiederum find unzertrennlich von der antiken Auffaffung der Kunft. Das Ver-
fchwinden der Akademien in diefer Zeit war nicht nur die Folge der damaligen
Stürme, fondern die Reaction des einheimifchen gallo-fränkifchen oder gothifchen
Geiftes gegen die immer gröfsere Zunahme des gallo-römifchen in Religion, Kunft
und Regierung 448).
Es ift begreiflich, dafs in diefer Zeit der Streit der Zünfte mit ihren gothifchen,
d. h. nationalen und zugleich volkstümlicheren Begriffen gegen die königlichen
Meifter und das Wiederaufrichten der Akademien befonders lebhaft wurde. Letztere
waren als Anhänger der Antike fowohl eine ariftokratifchere Elite, als auch die
Förderer der ausländifchen Kunftrichtung. Aus derfelben Quelle entfpringt das da-
malige Hinneigen zur niederländifchen Kunft, in welcher die gallo-fränkifche Sinnes-
weife ihre eigene weiter leben fühlte.
Die zweite Richtung äufsert fich in der Sympathie für Elemente der Künfte
derjenigen Völker, welche entweder ebenfalls der gallo-fränkifchen Kunftrichtung
angehören, wie die Vlamänder, oder aber wie die auf blühende mit Heinrich IV.
verbündete holländifche Republik am energifcheften gegen den fpanifch-römifchen
Abfolutismus kämpften.
Es kann nicht genug hervorgehoben werden, dafs diefe vlämifch-holländifchen
Einflüffe unter Heinrich IV., fo zu fagen, mit dem Edict von Nantes beginnen und
gleichzeitig mit dem letzten Ringen für Freiheit in der Fronde zu Ende gehen.
Als 1661 Ludwig XIV. zu regieren begann, find fie, wie alle anderen Regungen des
freien Geiftes, fcheinbar ganz verfchwunden.
Eine andere Aeufserung des Geiftes der Freiheit befteht im Fefthalten am
Geifte der Willkür und freien Phantafie der fpäten Phafe des XVI. Jahrhundertes;
ferner, im Zufammenhang mit diefem, eine Vorliebe für die Detailbildung Michel-
angelos und feiner Schüler und eine Sympathie für die unregelmäfsigen Elemente
in der fpanifchen Literatur Die Wirkungen diefer Elemente werden wir in der
freien Strömung der Zeit Ludwig XIII. erkennen, eben fo ihr Wiedererwachen in
einem modificirten Geift in der Kunft Ludwig XV.

147) ln dem halben Jahrhundert zwifchen 1584, in welchem die Acadimie du Palais fich auflöste, und dem Jahre
1634—35 , in welchem die Acadetnie J‘ran^aij~e entftand , gab es in Frankreich keine Akademie, (Siehe im Folgenden das
Nähere gelegentlich der Akademien.)
148) Um Jedem gerecht zu werden, darf man nicht vergeßen, dafs es zwei Begriffe des Nationalen in Frankreich
giebt: den gallo-römifchen und den gallo-fränkifchen.
 
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