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Deutung

In dem nächsten Teppiche (El Yicio) erscheint Herrin Prndentia mit ihrem Gespanne,
den fünf Sinnen, die „Reson" lenkt. Sie trägt in der Hand den dreifach gefaßten
Spiegel. Uber einem reichen architektonischen Aufbaue thront in Wolken «Sapientia
divina", umgeben von den Zeichen des Tierkreises. Die zahlreichen Gruppen, die
das Innere der portikusartigen Architekturanlage beleben, illustrieren den Spruch:
Zähme deine bösen Lüste, lasse deinen guten Willen mit Stärke und weiser Mäßigung
in dir wirken, dann wirst du das Glück in Banden schlagen. Der Gedankengang, der
nur zum Teile dem Anticlaudianus entlehnt ist, verkörpert sich im Mittelpunkte der Halle
in Yirtus — „VRTCF —, einem platonischen Philosophen, der den gefesselten Faun

— die Sinnenlüste — mit der Rute züchtigt. Im Vordergründe kniet die besiegte und
in Ketten geschlagene Fortuna; neben ihr stehen die Überwinder „Stärke", mit der
zerbrochenen Säule — ein Attribut der italienischen Ikonographie —, und „Mäßigung^
mit der der französischen Symbolik entlehnten Uhr, am Munde den Zaum. Die ver-
schiedensten Tugenden, Philosophen, Helden und Heldinnen füllen die Szene. Wir
finden Trajanus, Thomiris, Horatius Codes, Camillus, Sara, Seneca, Salomo, Cicero,
Moses, Esther, Helena, Kassandra, ferner Discretio, Disciplina, Perseverantia, Magna-
nimitas, Spes, Constantia, Modestia, Verecundia, Abstinentia, Mansuetudo, dementia,
Moderatio, Lenitas, Correctio, Conversio, Contritio und Resipiscentia.

Typisch ist eine kleine Szene in der rechten oberen Hälfte des Teppichs. Pallas
heißt den schwergerüsteten Prometheus das göttliche Feuer rauben. Der religiös-
didaktische Gedankengang, der die Erklärung gibt, dürfte etwa folgendermaßen zu
fassen sein: Während der Christ mit Hilfe der göttlichen Weisheit und der in ihm
wohnenden guten Seelenkräfte zum wahren Glücke gelangt, ist es den Heiden nur
möglich auf dem Wege eifrigen Forschens, das nicht frei ist von frevelhaften Eingriffen,
das Wesen des Göttlichen, den Funken des Glückes, innere Befriedigung und Seelen-
ruhe zu finden.

Das nächste Bild führt uns in den Tempel des wandelbaren Glückes; nach der
Beschreibung Alains de Lille erhebt er sich auf mächtigem Felsen, ihn umrauscht
der Strom des Mißgeschickes. Fortuna hält die Kurbel des Glücksrades, alle Ge-
schicke der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Werke ihrer Hand. Die
gleiche allegorische Gestalt braust hoch zu Roß, mit Krone und Szepter geschmückt,
in den Lüften dahin, sie schüttet aus goldenem Becken wahllos die Gabe der Frucht-
barkeit — goldene Eier — über Gerechte und Ungerechte.

Als Schützer des Tempels wachen Julius Cäsar und „Romulda" mit dem Banner des
Glückes, den wechselnden Mondphasen. Von den bekannteren Gestalten der An-
tike sind Amphion, Polikrates, Priamus, Servius Tullius (der sechste römische König),
Perseus und Andromeda, Remus, Europa, Orion, Krösus - CRAESVS — auf dem
Scheiterhaufen, Helle und Phrixos, Athanas (ein im 4. Jahrhundert v. Chr. in Syrakus
tehmdep-Hi^torfkgr), Seleukus, Hekuba, Kleopatra, Danae, Alkyone, Midas, Hero —
ERO — und Leander — EANDER — zu nennen. Natürlich fehlt auch nicht das alle-
gorische Moment. Wir erblicken Paupertas, ein häßliches altes Weib mit dem Bettel-
korbe, und andere Figurationen mehr. Oben links schmiedet Vulkan die glückbringenden
Waffen Achills; die sprühenden Funken und das starke Gebläse der helfenden Geister

— Sturm und Gewitter — bringen kämpfenden Schiffen den Untergang; rechts thronen
Phöbus und Flora, ruhig ziehen die Karavellen über die Flut.

Wiederum erläutert ein dreifaches Spruchband den Gedanken:

Omnia vel voto longenferuntur 'MkjiX»'"ffQ
Ipsaque Mors presens^rti^favente fugit,
Hinc spargens rosas hinc saxa voluntas
Ludit et arbitrio cuncta suo parte regit
Nil nisi triste cadit quibus est fortuna sinistra
Milleque''. functis Mors venit atra modis.

Der Anticlaudianus Alains schließt mit dem Kampfe der Tugenden und Laster. Es
liegt nahe, zwei Teppiche unserer Folge den bereits besprochenen anzureihen. Tat-

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