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Deutung

Folge der Aströe nach Honore d'Urfe\ Stark sind die Quinaultschen Opern Armide
(1686), Roland (1685) und Amadis (1684) in Wirkteppichfolgen vertreten. Tassos
Aminta und einzelne Szenen aus dem Befreiten Jerusalem, sowie Episoden aus dem
Zeitroman „Le Grand Cyrus" der Mlle de Scudery kommen schon seltener vor. Fragt
man sich, wie dieses seltsame Gemisch von Pastorellen, leichten Opern und Romanen
einen derart durchschlagenden Erfolg in der Bildteppichwirkerei erzielen konnte, in
einer Kunst, die bislang sich nur damit befaßte, die Taten ruhmgekrönter Helden,
das Lob des Fürsten, das Leben und die Freuden der höchststehenden Klassen zu
künden und zu verherrlichen, so gibt ein Blick auf das gesellschaftliche Niveau um
die Mitte des 17. Säkulums schnellen und klaren Aufschluß.

Die Lebenshaltung ist reicher und üppiger geworden, der literarische Einfluß Spaniens
leiht dem Minnedienst, dem zu Ende des 16. Jahrhunderts Verflachung droht, eine
neue Variante. Der Cicisbeo, das Urbild des edelentsagenden Liebhabers, hält seinen
Einzug. Seltsam kontrastieren die neuen Ideale mit dem immer stärker anwachsenden
Kleiderluxus, der Freude an äußerlich schillerndem Prunk, an üppigen Festen. Die
erstarkende Macht Frankreichs gibt den führenden Kreisen die Berechtigung, das Leben
in vollen Zügen zu genießen, notabene innerhalb der Grenzen, die dem „honnßte
homme11 gezogen sind. Die rustikalen Liebhabereien Ludwigs XIII., dem Jagd- und
Hundegeschichten nur gefallen mochten, erscheinen veraltet; der Roi Soleil, die Ver-
körperung des allmächtigen Königtums, zieht alle Blicke auf sich. Die Fronde des alten,
auf seine Vorrechte stolzen Landadels bricht kläglich zusammen; aus dem schwert-
tüchtigen, rauflustigen Edelmann „ä la Dumas" wird der Hofschranze, der stunden-
lang in den königlichen Vorzimmern promeniert und die Zeit mit Klatsch und pikanten
Histörchen totschlägt. Die Worte, die das Parlament Ludwig XIII. zuruft «Sire, die
Könige sind die sichtbaren Götter der Menschen" wandeln sich unter seinem Nach-
folger zur Wirklichkeit. Das Pathos, die elegante Phrase, das schöne Wort, gewinnen
unendlich an Bedeutung. 1635 eröffnet die Academie francaise ihre Pforten. Die Salons
„pour passer le temps agröablement ensemble" schießen wie Pilze aus dem Boden.
Das Hotel Rambouillet, das Palais-Cardinal verschmelzen italienische Schöngeisterei
mit französischem Witz und spanischer Grandezza. Durch all das preziöse Getue geht
ein romantischer Zug; „Carrousels", Reiterspiele in orientalischer oder polnischer Tracht,
Serenaden, gemäßigte und elegante Turniere geben dem gesellschaftlichen Leben den
heiß ersehnten heroischen Anstrich. Bei aller echten oder nachempfundenen Verehrung
für die hohe Kunst der Tragödie steht dem höfisch gebildeten Franzosen und dem
geistesverwandten Südflämen mehr der Sinn nach leichter, tändelnder Kost.

Das Schrifttum der Niederlande gibt den besten Beweis, wie rasch der französische
Einfluß, oder vielmehr das Gemisch italienisch-spanisch-französischer Dichtung, die
heimischen Literaten in ihren Bann zwingt. De Coster (244), Brederoo, Hooft, Joost
van den Vondel und ihre Nachfolger bringen dem Orlando Furioso oder Tassos „Geru-
salemme liberata" uneingeschränkte Begeisterung entgegen; sie stehen trotz ihrer aus-
gesprochen heimischen Art den neuen Ideen, die vom Süden her unaufhaltsam sich
vorschieben, letzten Endes machtlos gegenüber. In Andries Pels, der 1668 mit dem
drei aktischen Trauerspiele „Didoos dood" in die Erscheinung tritt, ersteht der Diktator
der nordniederländischen Poesie; seine berühmt gewordene Kunstgesellschaft „Nil Vo-
lentibus Arduum^ zu Amsterdam stärkt in weitestem Sinne seinen Einfluß. Pels und
seine Jünger sind die eifrigsten Bewunderer antiker Dichtung, wohlverstanden in der
Auffassung Boileaus; die peinlich genaue Beobachtung der von dem Franzosen auf-
gestellten Regeln ist die „conditio sine qua non" für jedes Drama oder Trauerstück,
das auf Beachtung rechnen will.

Qu' en un lieu, qu'en im jour, un seul fait accompli,
Tienne jusqu'ä la fin le th6ätre rempli.

Der Aristotelische Grundsatz der drei Einheiten — Ort, Zeit, Handlung — wird in der
schärfsten Weise durchgeführt. Die Methode verwirft Chor — und Szenenwechsel; ein

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