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Deutung

gewaltsam gesteigertes Pathos wird zum tragenden Momente der Dichtung. Konnte
eine derart wiedergegebene Tragödie auf eine Wandteppichfolge, die sich auf den
ständigen Wechsel der Bilder, auf möglichst farbenprächtige Einzelheiten, auf eine
Handlung, die sich über längere Zeitspannen erstreckt, aufbauen muß, auch nur im
geringsten anregend wirken? Selbst im 18. Jahrhundert, als die klassischen Stücke
Racines und Molieres dem Volksempfinden in Fleisch und Blut übergegangen sind,
werden nie [die ganzen Dichtungen in Bildwirkereien zur Darstellung gebracht. Man
begnügt sich damit, kurze Teilausschnitte mit möglichst bewegter Handlung in Seide
uud Wolle zu übertragen. Die Auswahl verschiedenartiger Opernszenen, unter ober-
flächlichen Gesichtspunkten zu einer Reihe gefaßt, zerreißt jede einheitliche Disposition;
aus der großzügig komponierten Folge ward eine Zusammenstellung von Teppichen, die
lebhaft an gleichgerahmte Bilder einer Galerie erinnern. Das Vorgehen mußte not-
gedrungen in dem geistlosen Kopieren von Gemälden enden, die, in den führenden
Salons angekauft, in der Staatsmanufaktur — gedacht ist an die Gobelins — zu Bild-
teppichserien zusammengestellt wurden.

Es führt zu weit, die Entwicklung des Theaters oder, richtiger gesagt, der Oper aus
den Intermedien der Renaissancedramen und Eklogen herzuleiten. Die Freude an prunk-
voller Ausstattung, an abwechslungsreichem Spiel und Gesang bereitet der Oper des
17. Jahrhunderts schnellen und günstigen Boden.

Die Lust am bunten Schäferspiel, an Balletts und Komödien ist dem Frankreich
Ludwig XIV., dem Schweden Christinens, den spanischen Niederlanden Karls U. und
den Nordstaaten des Erbstatthalters Wilhelms III. gleichermaßen eigen. In Stockholm
spielt die Königin am heiligen Dreikönigstag die Rolle der verliebten Amaranthe —
zur Erinnerung an das frohbewegte Fest entsteht der preziöse Amaranthenorden —;
der Sonnenkönig tritt im Ballett der uamours d'Hercule" höchstselbst auf und mimt
mehr wie einmal den strahlenden Apoll. Auch der zartliebende Hirt gelangt in der
Oper zu seinem vollen Rechte. Das Wohlwollen für den ländlichen Bewohner, der
in den Kämpfen der Fronde verhätschelt wurde, um die Milde des Königtums gegen-
über dem bauernschinderischen Adel alten Schlages zu dokumentieren, spielt bei den
zeitgenössischen Schäferspielen schwerlich eine Rolle. Hirt und Hirtin der verliebten
Pastorelle sind wohlerzogene, feingebildete Höflinge; das Land, das sie trägt, ist Ar-
kadien.

Ausschlaggebend war jedenfalls, daß Ludwig XIV. der Oper das lebhafteste Interesse
entgegenbrachte; die rue Saint-Honorö wimmelte von Karossen, wTenn für den Saal
des Palais-Royal eine der mondänen Vorführungen auf dem Spielplane stand. Das
Gedränge wurde lebensgefährlich bei Zugstücken wie die «Fetes de l'Amour et de
Bacchus" (1672), bei Balletten in der Art des „Triomphe de l'Amour" (1681), oder des
„Temple de la Paix" (1685); schmelzende lyrische Tragödien wie Alceste (1674), Th6s6e
(1675), Cadmus et Hermione (1672), Athys (1676), Isis (1677), Proserpine (1680), Persee
(1682), Phaeton (1683), Amadis (1684), Roland (1685) oder gar die bezaubernde Ar-
mide (1686) lösten Stürme der Begeisterung aus. Die Quinaultschen Stücke scheinen
in ihrer leichten, sinnlichen, einlullenden Art auf die Gesellschaft der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts einen geradezu hypnotisierenden Einfluß ausgeübt zu haben.

Die Eimvirkungen der italienischen Pastorelle auf die französische Literatur geht bis
in das 16. Jahrhundert zurück. „La favola pastorale", die jede andere schlug, war
Guarinis Pastor fido. Der Autor verstand es glänzend, seiner Dichtung schon vor dem
Erscheinen durch eine großzügige Reklame den Boden vorzubereiten. «Der treue
Hirt" — eine Nachempfindung des wertvolleren Tassoschen Aminta (1573) — ging
1585 in Turin zum ersten Male über die Bretter; 1590 erfolgte in Venedig die Druck-
legung. Bis zum Beginne des zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienen nicht
weniger wie rund 170 italienische, über 80 französische und etwa 20 deutsche und
flämische Auflagen.

Die frühesten Teppichfolgen des Pastor fido fallen, soweit die Inventare hierüber
Aufschluß geben, in die ersten Jahrzehnte des 17. Säkulums. Das am 14 Januar 1639

^ 3 Göbel, Wandteppiche.

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