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DIE TRAGIK DER ROLLANDSCHEN FREIHEIT

i.
Romain Rolland stammt aus dem Teil Frankreichs, in dem gemüt-
hafte Wärme von alters her zu Hause war, und der gerade da-
- durch, wie er selbst einmal sagte, in vielen Beziehungen an
Deutschland erinnert. Clamecy ist seine Heimatstadt. Uns ist die Gegend
schon durch Claude Tilliers liebes Buch: „Mein Onkel Benjamin“
vertraut, dessen Geschichte sich hier abspielt. Das kleine Land-
städtchen liegt in romantisch bewachsene Hügel gebettet; es wird von
dem stillen Beuvron durchflossen, über den sich altertümliche Brücken
spannen — schmale Holzbrücken, die beim Betreten schüchtern
schwanken, oder grau verwitterte Steinbögen. Auch das Leben fließt
dort leise. Die alten Häuser schauen schläfrig drein und lassen sich
gern von der ausdrucksvollen Mystik der schönen gotischen Kirche
beherrschen.
Hier wurde Romain Rolland am 29. Januar 1866 geboren. Fran-
zösische Provinzstädte sind sehr eng. Seit Jahrhunderten schlummert
das Leben dort in einer Agonie, die jeden Augenblick in starren Tod
überzugehen zu drohen scheint. Jede Lebensform ist aus früherer
Zeit übernommen. Der Klassizismus des 17. Jahrhunderts wirkt bis
in die Gebärden, bis in die Kinderstube. Rationalistisch ist jede
Regel, die der Mensch empfängt. Konservativ die Gesinnung, die
der Luft entströmt, wie immer die Worte lauten mögen, die ans Ohr
schwingen. Tradition und Nationalismus die hohen Mauern, die
jeden Blick ins Weite wehren. Ein Wunder der Menschenentwick-
lung, daß hier Romain Rolland aufwuchs. Oder wirkte sich auch
hier nur das Gesetz der Reaktion gegen den stärksten Druck aus,
als es in dem jungen Gymnasiasten schon den romantischen Drang
in die Weite der Welt emporwuchern ließ; als es ihm den alten Re-
volutionssang von Brüderlichkeit und Freiheit ins Ohr sang — woher?
aus den murmelnden Bächen, die unterhalb der erstarrten Erde in
Frankreich überall rieseln? Sein unbestimmtes Sehnen zog ihn in

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