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II. Ansätze zur Theoriebildung in der Gotik

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greifenden kosmischen Zusammenhang, denn im Tetraeder erkennt Platon
den ersten der regelmäßigen Körper, in denen die Schönheit der Welt
beschlossen liegt. Die Gesetzmäßigkeit der sog. „crux decussata“, die
St. Michael zugrunde liegt, wurde schon in der Spätantike aus der Vermes-
sungskunst der römischen Städtebauer auf Basiliken übertragen (Peters-
dom, St. Paul v. d. M.) und lebte auch in Italien fort (Baugruppe des
„Carolingian Revival“, Montecassino und dessen Nachfolgebauten. Urban
1975). Der Plan für die Abteikirche von Cluny III wurde durch den
Musiker Gunzo entworfen. Gunzo kombinierte die Reihe der sog. runden
Zahlen mit den „numeri perfecti“, den Zahlen, die identisch sind mit der
Summe ihrer Teiler (das sind zwischen 1 und 1000: 6, 28, 496).
Das wichtigste Zeugnis für die Geometrie als Grundlage der Architektur
aus der Hochgotik bildet das sog. Bauhüttenbuch des Villard de Honne-
court. Dort sind die Konstruktion geometrischer Figuren, die Verdoppe-
lung des Quadrats, die Anwendung geometrischer Gesetze in der Vermes-
sung etc. abgebildet (Abb. 4). Aber diese geometrischen Regeln bilden nur
Hilfsmittel für die Baupraxis. Hier oder in den Reimser Palimpsesten
(Branner 1958) findet sich kein Ansatz zu einer übergreifenden Propor-
tionslehre.
In der Hochgotik blieben architekturtheoretische Ansätze auf solche
- damals nicht theoretisch begründete - Hilfskonstruktionen für geometri-
sche Figuren und Regeln für Vermessungen beschränkt. Nicht einmal die
Statik so komplexer und fragiler Gebilde wie der Kathedralen basierte auf
einer theoretischen Grundlage. Man verließ sich auf alte Erfahrungen und
experimentierte, bis sich die Grenzen des Möglichen zeigten, bis, wie 1284
in Beauvais geschehen, die Gewölbe zusammenbrachen.
In England entstanden Ende des 14. Jahrhunderts und (als Abschrift
eines älteren Werkes) um 1430/40 zwei Abhandlungen über die Geometrie
(Knoop/Jones). Die Steinmetzkunst als angewandte Geometrie wird dort
weitgehend der Geometrie gleichgesetzt. Da Proportionen und geometri-
sche Gesetze als Strukturprinzipien der Welt begriffen werden, gilt die
Steinmetzkunst als edelste aller Künste. Euklid, der Vater der Geometrie,
soll seine Weisheit von Abraham gelernt haben. Es geht den Verfassern
darum, den Rang der Steinmetzkunst aufzuweisen, nicht ihre einzelnen
Regeln.
Proportionen und geometrische Gesetze als Grundlage der Architektur
sind im 14. Jahrhundert auch in Italien belegt. 1322 wenden sich Lorenzo
Maitani und vier weitere Baumeister gegen die begonnene Erweiterung
des Domes von Siena mit folgender Begründung: „Item nobis videtur
quod in opere non procedatur deinceps, cum vetus ecclesia sit adeo bene
proportionata et ita bene simul conferant partes sue in amplitudine, longi-
tudine et altitudine: quod si in aliqua parte aliquid iungeretur, opporteret
 
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