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II. Ansätze zur Theoriebildung in der Gotik

invite ut dicta ecclesia destrueretur in totum, volendo eam reducere ratio-
nabiliter ad rectam tnensuram ecclesie“ (Milanesi 1854-1856 I, 187).
Welche Proportionen im Sieneser Dom walten, wird nicht gesagt.
W. Braunfels (1963) hat gezeigt, daß das Kuppelmodell des Florentiner
Doms ähnlich kompliziert proportioniert war wie St. Michael in Hildes-
heim. Es basierte auf der Zahlenfolge, die nach dem Mathematiker Leo-
nardo da Pisa, gen. Fibonacci (um 1180-1240) genannt wird. Fibonacci
stellte die Reihe auf als Antwort auf die Frage Friedrichs II., wieviel Nach-
wuchs aus einem Kaninchenpaar innerhalb eines Jahres hervorgeht, wenn
es ein Paar pro Monat zeugt und jedes weitere Paar sich nach zwei Mona-
ten entsprechend an der Produktion beteiligt. Jede Zahl dieser Reihe
bildet die Summe aus den beiden vorhergehenden Gliedern. Mit zuneh-
mender Größe nähert sich das Verhältnis von zwei benachbarten Gliedern
zueinander dem Goldenen Schnitt an. Euklid hat den Goldenen Schnitt
am Fünfeck demonstriert. Die Konstruktion des Fünfecks ist im Bau-
hüttenbuch des Villard de Honnecourt dargestellt (Meckseper 1983).
Wie kompliziert es war, die angemessene Krümmung der Kuppel des
Florentiner Doms zu finden, lehrt eine Eingabe des Giovanni di Gherardo
da Prato von 1426, die, anknüpfend an Überlegungen von 1367, die geome-
trische Konstruktion darstellt und schriftliche Erklärungen gibt (Abb. 5).
Das Problem führte zu der bis heute berühmten Auseinandersetzung
zwischen den beiden Dombaumeistern Lorenzo Ghiberti und Filippo
Brunelleschi (Saalman 1959. Braunfels 1963).
In Italien erreichte die gotische Architektur gewöhnlich nicht so kühne
Formen wie nördlich der Alpen. Aber vieles regte zur intensiven Ausein-
andersetzung mit der Theorie an. Die Antike blieb hier trotz allen stili-
stischen Wandels als großes Vorbild im allgemeinen Bewußtsein. Haupt-
maße des Florentiner und Mailänder Doms wurden anscheinend nach dem
Pantheon ausgerichtet. Als Abt Desiderius das Kloster Montecassino Ende
des 11. Jahrhunderts erneuerte, orientierte er sich an der Konstantinischen
Basilika von St. Peter und ließ eine Abschrift von Vitruvs Architekturtrak-
tat anfertigen.
Handel, Geldwirtschaft und relativ enger Kontakt mit der islamischen
Welt führten in Italien im 13. Jahrhundert zur Rückbesinnung auf die wis-
senschaftlichen Grundlagen der Geometrie. Fibonaccis geometrisches
Lehrbuch geht erstmals von Faustregeln für Lösungen zu theoretischen
Begründungen über.
Die Protokolle der Mailänder Dombauhütte (ab 1386) bilden ein einzig-
artiges Zeugnis für die Bedeutung der Architekturtheorie in der Spätgotik.
Sie berichten von ausführlichen Diskussionen zwischen den Deputierten
der Bauhütte und den Architekten über die Gestalt des Doms und seiner
einzelnen Glieder. Die besonderen italienischen Verhältnisse mögen sich
 
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