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II. Ansätze zur Theoriebildung in der Gotik

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auf diese Auseinandersetzung ausgewirkt haben. Manches erinnert an die
Verhältnisse am Florentiner Dom: die langen Überlegungen an sich und
die Unschlüssigkeit, die auch einfach dadurch bedingt war, daß eine goti-
sche Bautradition wie nördlich der Alpen in Italien fehlte; zudem die rela-
tiv komplizierten mathematischen Regeln, die der Gestaltung zugrunde
gelegt werden sollten. Aber an der Diskussion beteiligen sich auch viele
nordische Baumeister, unter anderem so berühmte Persönlichkeiten wie
Heinrich Parier und der Baumeister des Ulmer und Straßburger Münsters,
Ulrich von Ensingen. Sie sind den Argumenten der Mailänder Deputierten
durchaus gewachsen, teilweise sogar überlegen. Es ist der französische
Baumeister Jean Mignot, der die Versammlung an die grundlegende
Bedeutung der Theorie erinnert (s. oben).
Begonnen wurde der Mailänder Dom nach einem Plan, der in einigen
wesentlichen Zügen dem Kölner Dom folgte. Ein Netz von Quadraten
bestimmt den Grundriß. Nach diesen Quadraten sollten sich auch die
Höhenmaße richten. Heinrich Parier setzte sich dafür ein, diese Konzep-
tion beizubehalten. Aber als es darum ging, den ungewohnt steilen Raum
zu verwirklichen, wurden die Lombarden von Zweifeln befallen, ob die
Konstruktion den nötigen Halt besitzt. Sie baten den Mathematiker
Gabriele Stornalocco um ein Gutachten. Stornalocco wollte den Aufriß
nach einem gleichseitigen Dreieck und einem Sechseck bemessen, die in
den gleichen Kreis eingeschrieben sind (vgl. Abb. 6). Die Maßverhältnisse
entsprechen so den musikalischen Proportionen. Die „Sphärenharmonie“
sollte im Mailänder Dom klingen. Stornaloccos Vorschlag fand Aner-
kennung und blieb formell die Grundlage für den Bau des Mailänder
Domes. Cesariano publizierte in der Vitruv-Edition von 1521 eine Variante
von Stornaloccos Gutachten (Abb. II 6). Eine Variante des 17. Jahrhun-
derts wurde neuerdings im Mailänder Stadtmuseum gefunden (Ferrari de
Passano/Romanini/Brivio I, Fig. 157). Baldassare Peruzzi skizziert auf einer
Zeichnung, die für den Neubau des Petersdomes bestimmt ist, wie bisher
unbeachtet blieb, den Querschnitt des Mailänder Doms, eingeschrieben in
ein gleichseitiges Dreieck (UA 629 v. Wurm, Nr. 514).
Allerdings wurde Stornaloccos Vorschlag nicht wirklich realisiert. Den
Mailändern waren die Gewölbe, die sich nach Stornalocco ergeben hätten,
immer noch zu mächtig. Sie führten niedrigere und leichtere Gewölbe aus.
Ohne geometrische Grundlage ging auch diese Änderung nicht ab. Jetzt
wurde das sog. Pythagoreische Dreieck als Regulativ für die Abmessungen
gewählt.
In der Diskussion um die Gewölbe fällt das Wort ..ars sine scientia nihil
est“. Die Geometrie bildete nicht nur die Grundlage für ästhetische Über-
legungen, sondern auch für statische. Mignot verteidigte die mächtigen
Gewölbe mit geometrischen Regeln. Die Deputierten mußten ihn auf den
 
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