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Trotz des parallelen Aufschwungs ist die Funktion der croce dipinta und der halbfigurigen Marienikone
eine grundsätzlich verschiedene. Während die erstere ein monumentales Triumphbild ist, das in der
Toskana sogar die Apsisdarstellung zu ersetzen vermag, haben die halbfigurigen Marientafeln die den
kleinformatigen Andachtsbildem gestellten Aufgaben zu erfüllen. Ungeachtet der gewaltigen Differenz
in bezug auf die Sphäre der Herkunft und den Wirkungsbereich vollzieht sich während des Dugento eine
funktionale Annäherung, deren Schnittpunkt die Aufstellung über dem Hochaltar ist, zu der das Tafel-
kreuz vom Ikonostasebalken und die Marienikone von ihren seitlich gelegenen Kultbezirken hindrängen.
Mit der Bevorzugung des Patienstypus, der wohl die monumentalen Eigenschaften des Tafelkreuzes
eher noch steigert als vermindert, findet aber eine inhaltliche Wendung zum Andachtsbild statt, deren
Folge konsequenterweise die Herstellung kleinerer Exemplare ist, die in den Bereich der halbfigurigen
Marienikonen eindringen. Die funktionsmäßige Überschneidung führt so bis zur Vertauschung der
ursprünglichen Bestimmung.
Während das zur Andachtsikone gewordene Triumphkreuz, wie die Beispiele der „sprechenden“ croci
dipinte haben deutlich werden lassen, den Anforderungen der neuen Funktion durchaus gerecht wird,
vermag das halbfigurige Marienbild, wenn es durch besondere Umstände auf die Mensa des altare mag-
giore gelangt, dem Anspruch des Aufstellungsortes schon wegen seiner geringen Abmessungen nicht zu
genügen. Bedarf es also beim Tafelkreuz lediglich einer formatmäßigen Reduktion, um die hinzu-
gewonnene Aufgabe erfüllen zu können, so verlangt diese von der nur sehr beschränkt vergrößerungs-
fähigen Marienikone nichts weniger als eine wirkliche Metamorphose. Diese Umwandlung von der Ikone
zum Retabel ist von formalen Voraussetzungen abhängig, zu denen Lucca und Pisa - das werden die
folgenden Kapitel zeigen - wohl noch sehr wesentliche Beiträge zu leisten imstande sind, ohne die Gestalt-
findung jedoch selbst vollziehen zu können.
In identischer Funktion begegnen croce dipinta und halbfiguriges Marienbild als Prozessionsikonen.
Nicht selten werden sie sogar in ein und demselben Zuge mitgeführt worden sein. So wurde in Siena am
Vorabend der Schlacht von Montaperti bei der sich zum Dom bewegenden Bittprozession, an Stelle des
in dieser Stadt vor der Jahrhundertmitte äußerst seltenen Tafelkruzifixes, ein plastisches Holzkreuz
vorangetragen, an das sich die Gruppe der religiosi und das oben genannte, unter einem Baldachin
getragene Marienbild anschloß, dem der Bischof und die übrigen Teilnehmer folgten.
In dieser über eine bloße Funktionsgleichheit hinausgehenden Funktionsgemeinschaft ist eine Tendenz
zu spüren, deren Zielpunkt die Funktionsverschmelzung der beiden gegenpoligen, den Anfang und das
Ende der irdischen Mission Christi vergegenwärtigenden Typen ist. Sie erfolgt auf den Diptychen, deren
linker Flügel die Muttergottes darstellt, während auf dem rechten die Kreuzigung erscheint. Das erste
in der Toskana faßbare Beispiel stammt aus dem Convento di S. Chiara in Lucca (Abb. 108; Garr. 243;
1,03 x 0,61 m; 1255-1265). Die die obere Bildhälfte einnehmende Glykophilousa flankieren die Heiligen
Petrus, Johannes der Täufer und Klara. In der Mitte der unteren Zone befindet sich auf einem Drachen
der Erzengel Michael, neben ihm sind die Heiligen Franz, Antonius, Jakobus und Andreas angeordnet.
Auf dem rechten Flügel ist die Kreuzigung nach dem Schema des luccesisehen croce-dipinta-Typus
zwischen Szenen und Klagefiguren dargestellt. Die mit grauer Farbe zugestrichenen, ehemals mit Quer-
balken an den oberen und unteren Kanten versehen gewesenen Tafelrückseiten lassen erkennen, daß die
Befestigung der Palen aneinander nicht die Verschließbarkeit ermöglichen soll, sondern ausschließlich
der Zusammenfügung dient. Die Provenienz und die Betonung der Ordensheiligen weisen auf die Fran-
ziskaner als die initiatorischen Förderer jener Tendenz, die die engstmögliche Vereinigung der Marien-
und Kreuzesikone anstrebt.
Nach der kurz zuvor (1255) erfolgten Kanonisation der heiligen Klara60 war hier vielleicht der Anlaß der
Ikonenvereinigung die beabsichtigte Aufstellung auf einem Altar als Retabel, das, auch aus Gründen
äußerer Zweckmäßigkeit, die beiden sonst räumlich voneinander getrennten Bildtypen miteinander ver-
bindet. Da beide Tafeln zusammen immerhin eine Breite von 1,22 m aufweisen, kann schon an den
Hauptaltar einer kleinen Konventskirche gedacht werden. Unter den Heiligenikonen besitzen wir viel-
leicht eine Parallele in den gleich großen Palen des hl. Nikolaus und der hl. Margherita (Garr. 395f.), in
denen Salmi61 die ehemaligen Hochaltarbilder des Margheritenkirchleins in Bisceglie bei Bari vermutet.
Natürlich kann das toskanische Diptychon, dessen Höhe von 1,03 m mit der der Prozessionskreuze über-
einstimmt, auch bei Umzügen verwandt worden sein, an deren Spitze es vorangetragen wurde. Dieses
erste Diptychonbeispiel ist unter den erhaltenen Stücken auch das formatmäßig größte. Die Gestalt und

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