Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zweites Kapitel

SPIEGEL UND SEELE

D ie Eigenschaften und Gaben, welche dem Spiegel vom Glauben zuge'
schrieben werden — seien sie religiös oder nur volkskundlich wertvoll —, um'
fassen ein ungeheures Gebiet. Die neueste Zusammenfassung10), die sich auf
das volkskundliche, abergläubische Material beschränkt, und zwar im deut'
sehen Sprachgebiet, die also die anderen Völker, vor allem auch die primi'
tiven, nicht einbezieht und das höhere religiöse Gebiet höchstens streifen
kann, zeigt doch in ihrer Systematik bereits die ganze Unerschöpflichkeit
des Stoffes. Da wird, grundsätzlich und mit Recht, der „wissende" Spiegel
dem „wirkenden" (magischen, wie wir sagen würden) gegenübergestellt.
Der letztere beherrscht zunächst die typisch „bösen" Wirkungen: Gefahr der
Selbstbezauberung und alles dasjenige, wovor man sich durch allerlei Spie'
gelverbote und sonstige abwehrende Maßnahmen zu hüten sucht. Er zeigt
sich weiter in den sogenannten apotropäischen Gaben, die der Aberglaube
ihm überall in ähnlicher Weise zuschreibt: darin, daß er Unglück abwehrt,
gegen bösen Blick feit, dämonische Wesen vertreibt, heilkräftig ist und daß
sein Zerbrechen oder Herabfallen von der Wand deswegen Unglück bringt.
Ferner gehören gewisse typische Riten und Zauber zu ihm: vor allem der
Analogiezauber, der ähnlich wie mittels wirklicher Bilder (aus Wachs oder
auf Leinwand gemalt) auch mit dem Spiegelbild ausgeführt wird. Dann
aber auch, wegen der „Verdoppelung", die der Spiegel bewirkt, der Zauber
der Vermehrung, wie er bisweilen dem Spiegel zugeschrieben wird: Nach'
kommenschaft, Erntesegen, Reichtum und so fort.

Was den wissenden Spiegel betrifft, so ist zunächst von seiner Weihe
(nicht der kirchlichen, sondern der magischen) die Rede: von den zahllosen
Bedingungen und Ritualien, die erfüllt sein müssen, damit ein Spiegel seinen
wahrsagenden Dienst tut. Weiter lernen wir aus zahlreichen Belegen, wie
man sich die Gestalt des wissenden Spiegels denkt, aufweiche Art man ihn
befragt und welche Wertschätzung er im allgemeinen genießt. Es folgen die
 
Annotationen