Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
204 Brandes: Ausflug nach Norwegen.
eine Höhe erstiegen, um ihm näher zu kommen, und nun weiter
über eine Bergwiese wanderte, durch Gebüsch von Birken und
Wachholder, trat mit einemmal vor seinen Blicken der Rjukan,
wie er zwischen zwei schwarzen Felsen von steiler finsterer Wand,
blendend weiss in einen tiefen Schlund hinabfällt. »Ich sage nicht
(so schreibt der Verfasser S. 63): er siedet und brauset und tobt
und zischt, auch nicht: er stürzt mit Donnergepolter in die Tiefe;
nein, er gleitet -und wallet und hebt sich und sinkt sanft hernieder,
schmal beginnend und ganz allmälig, nicht ausfahrend, nicht auf-
fahrend, in anmuthigster Haltung frei und gemessen sich erwei-
ternd, gleichwie der schönsten Jungfrau weissestes Kleid, das von
der schmalen Taille rund und glatt, abwärts breiter und breiter
wird, bis es in langen Falten und Busen weithin über die Füsse
wallt. So ist der Rjukan, welcher von der stets über ihm schwe-
benden Dampfwolke mit altnordischem Namen Rjukan, der Rau-
chende, benannt ist. Die Höhe des Falls beträgt 670 Fuss.
Dieser Wasserfall machte auf mich einen eigenthümlichen Ein-
druck, wie ich einen ähnlichen nicht an dem Rheinfall bei Schaff-
hausen, nicht an dem schauerlichen Sturz der Aar bei Handek.
nicht an den Reichenbachfällen bei Meyringen, nicht an dem Staub-
bach bei Lauterbrunnen, auch nicht am Traunfall im Salzkammer-
gut, auch nicht an den Fällen der wilden Ache in Gastein, auch
nicht an den Wasserfällen des Clyde in Schottland, noch auch an
den Kaskaden und Kaskatellen in dem römischen Tivoli, noch auch
an den Fällen der Dalelf in Dalekarlien, noch bei Trolhätta an den
imposanten Fällen der Göthaelf, wie ich an keinem derselben er-
fahren, wie überhaupt keine Gegend auf mich gemacht hat. Die
alte heilige Orakelstätte des pythischen Apollo, Delphi mit den
tausend Fuss hohen senkrechten Felswänden der Phädriaden und
der übrigen Felsenumschliessung, versetzte mich in die gehobenste
und feierlichste Stimmung, wie keines der imposantesten Alpen-
gebirge vermocht hatte; die eisengrauen nackten himmelhohen Fel-
senwände der Tatra erfüllten mich mit Bangen und Grauen; die
so kunstreich und fein geordneten Waldgruppen und Gärten und
Baumgänge von Aranjuez entzückten mich, dass ich es innigst be-
dauerte , als die schönen Tage von Aranjuez vorüber waren; der
Bosporus mit den sechs Stunden lang auf Asiens und Europas
Küste an einander gereiheten bunten rtschaften und Buchten und
Vorgebirgen und Schlössern und dem finstern über Skutari hän-
genden Cypressenwalde und mit Stambul und seinen grossen Mo-
scheen und schlanken Minarets hoch auf der Bergplatte, bezauberte
mich, dass ich der Erde entrückt zu sein und in himmlischen
Regionen zu schweben wähnte; die überaus freundliche Gegend der
Stadt Bergen lachte mich an , und ich lachte auch und war so
heiter und voll Freude über die Lieblichkeit und Anmuth auf Gottes
Erde — aber vom Rjukan geschah mir, ich wusste nicht wie; denn
ich wurde weich und gerührt, dass mir eine Thräne in das Auge
 
Annotationen