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Weidner: Cominentar zu Vergil’s Aeneis I u. II.

dass auf diesem Boden sich der römische Dichter ein neues Feld
erobern müsse, auf welchem sich griechische und römische Sage,
Religion und Geschichte vereinigen liesse, um das Interesse der
Römer für ihre poetische Literatur zu wecken oder zu steigern.
Es war deshalb, wie mir scheint, ein glücklicher Gedanke, dass er
nach der Sage von dem Ursprung des Julischen Hauses griff, wel-
ches seine Existenz noch über die Gründung Rom’s bis auf Aeneas
zurückführte. Damit gewann ei' einen Stoff, welcher eingriff in
das alte Heroenleben des Troischen Sagenkreises, der aber auch
zugleich die Möglichkeit bot, die Uranfänge Rom’s, seine Sitten,
Gesetze, Religion, Topographie und Geschichte dem römischen Leser
vor die Seele zu führen. Durch diese Wahl war der Boden für
ein nationales und populäres Gedicht gewonnen, ohne doch der
bisherigen gelehrten Richtung der römischen Poesie zu entsagen“.
Aus dieser hier wörtlich mitgetheilten Stelle ergibt sich, wie
der Verfasser, und im Ganzen wohl richtig, die Stellung des Ver-
gilius und die mit der Aeneis verbundene Tendenz aufgefasst hat;
er verbreitet sich dann weiter über das Verhältniss des Dichters
zu Augustus, in welchem Vergil allerdings den Retter des Staates
und der Gesellschaft erkannt hatte ; indess wird hinzugefügt, ,,Vergil
wäre kein wahrhafter Dichter, wenn der Grund und die Veranlas-
sung seiner dichterischen Muse nur ein politischer wäre; er war
begeistert für den Frieden und die Monarchie und arbeitete für
den Bestand und die Erhaltung dieses Zustandes. — Aber der
Dichter wollte gewiss noch Etwas Höheres schaffen, er wollte seiner
Nation eine Bibel (?) geben, in der es sein Leben und seine Ge-
schichte, sein besseres Selbst sollte wieder erkennen können, denn,
wenn auch die Aeneide nicht ein klarer Spiegel des wirklichen
Lebens und der Gegenwart werden konnte, überwiegend wurde
doch die Erinnerung der wunderbaren Vorzeit eines vergangenen
Heldenlebens, das der Dichter seinem Volke wieder vorführte in
der Verherrlichung und Verknüpfung aller heiligen und denkwür-
digen Stätten Rom’s und Latium’s. Die Belobung der ehrwürdigen
Stätten Rom’s und seiner Umgebung durch Sage und Gesang sollte
den verborgenen Menschen- und Römergelüblen neue Anregung und
Erweckung verleihen, tbeils zu männlichen Idealen, tbeils zu heiterer
und naiver Selbstbetrachtung.“ (S. 24.)
Aus diesen Proben mag der Standpunkt des Verfassers und
seine Auffassung des von dem alten Dichter geschaffenen Kunst-
werkes erkannt werden; und wenn man dieses Werk um einzelner
halben Verse willen, so wie selbst um einiger Widersprüche willen,
die man in demselben aufgedeckt, für ein unvollendetes halten
wolle, so meint doch der Verfasser, es widerspreche dieser Ansicht
die ganze Anschauung des Alterthums, welches in der Aeneide ein
vollendetes Werk erkannt, auch wenn dem Dichter nicht vergönnt
gewesen, die letzte Hand für die Herausgabe desselben anzulegen,
während die Sprache des Dichters der Kanon der scbulmässigen
 
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