Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Historisch-Philosophischer Verein <Heidelberg> [Hrsg.]
Neue Heidelberger Jahrbücher — 2.1892

DOI Heft:
Heft 2
DOI Artikel:
Lemme, Ludwig: Shaksperes König Lear
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29032#0224
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Shaksperes König Lear.

Von

Ludwig1 Lemme.

Ist es gewiss nicht richtig, das Drama in geschichtsloser Höhe über
Zeit und Volk erhaben zu denken, so ist doch die geschichtliche Wert-
schätzung, welche das Drama nach Art der kulturgeschichtlichen Skizze
betrachten möchte, gewiss noch viel unrichtiger. Das Drama schildert
den Menschen, nicht nach Art des modernen geschichtlichen Romans im
Wechsel der Kulturepochen, sondern nach seinem gleichbleibenden psycho-
logischen und moralischen Wesen. Auch das Trauerspiel zeichnet den
Menschen, und zwar in seiner sittlichen Verschuldung und in dem Sturz,
den die sittliche Verschuldung nach sich zieht. Jedes wirkliche, echte,
mit dichterischer Kraft durchgeführte Trauerspiel hat darum bleibende
Bedeutung und dauernden Wert. Die Menschen, die in demselben vor
uns hintreten, mögen Kinder ihrer Zeit sein: das Wichtigere ist doch,
dass sie Menschen sind von Fleisch und Blut wie wir, ausgestattet mit
denselben Trieben und Leidenschaften, denselben Neigungen und Be-
gierden unterworfen, und darum Menschen, in deren sittlichen Verirr-
ungen wir die Möglichkeit eigener Verfehlung wie im Spiegel sehen.

Es war darum keine glückliche Ausflucht, wenn man Shaksperes
König Lear gegen die Angriffe derer, die dieses Drama zu grausig, zu
gewaltsam, das Tragische zur Roheit, zum Barbarismus übersteigert
fanden, dadurch retten zu müssen meinte, dass man sich zurückzog auf
die Schilderung der Bilder einer vorgeschichtlichen Zeit, in der titanische
Kraftmenschen mit titanischen Leidenschaften titanische Greuel verübten
und titanische Geschicke erlebten. Aber König Lear ist kein Titan, und
sein Geschick ist nicht titanisch. Und im Trauerspiel ist es gewiss das
historische Interesse am allerwenigsten, das Befriedigung sucht und findet.
Skakspere verrät auch im König Lear nicht, dass hier irgend ein histo-
risches Interesse irgendwie für ihn massgebend gewesen sei. Wenn also
 
Annotationen