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Historisch-Philosophischer Verein <Heidelberg> [Editor]
Neue Heidelberger Jahrbücher — 5.1895

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Heft 1
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Cantor, Moritz: Zahlensymbolik: Vortrag, gehalten in Heidelberg am 18. Dezember 1894
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https://doi.org/10.11588/diglit.29062#0054
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Moritz Cantor

Daniel Tag und Stunde genau zu ermitteln. Er werde am 19. Oktober
1533 früh 8 Uhr eintreten.

Stifel glaubte natürlich eben so fest an die Zuverlässigkeit seiner
Rechnung, wie er nachmals 1553 unumwunden zugestand, dass „die
Zalen Danieli’s misbrauchet waren.“ Er bat 1532 Luther um eine
Vorrede, die dieser wohlweislich verweigerte, worauf Stifel ihn brieflich
mit Schmähungen überhäufte. Der Geist, der sonst in ihm gewohnt
habe, sei erloschen, ein Pilatus, ein Herodes sei aus ihm geworden.

Die Schrift fand Käufer und gläubige Leser in Menge. Je weiter
die Kreise waren, in welche die Wundermähr vom kommenden jüngsten
Tage eindrang, um so fester wurde die Überzeugung, die Weissagung
werde sich bewahrheiten. Die Bauern verkauften Haus und Feld und
verprassten den Ertrag, um sich vor Untergang der Welt noch einmal
gütlich zu thun. Stifel selbst verschenkte Hausgeräte und Bücher, weil
er sie nicht mehr nötig haben werde, ein merkwürdiges Beispiel von
Folgewidrigkeit des Denkens, denn wenn die Welt unterging, hatten
dann die von Stifel Beschenkten nicht das gleiche Schicksal mit ihm
zu erleiden? An den dem 19. Oktober 1533 unmittelbar vorausgehen-
den Tagen hatte Stifel fortwährend Beichte zu sitzen. Bis aus Schlesien
kamen Leute, die in Lochau untergehen, vorher noch einmal durch den
Propheten erbaut sein wollten. Der 19. Oktober erschien. Stifel hielt
von frühester Morgenstunde an Gottesdienst. Das Horn des Kuhhirten
rief zu demselben und wurde von den aus dem Schlafe Auffahrenden
für die Posaunen des jüngsten Gerichtes gehalten, wie ein im Drucke
erhaltener Brief eines Augenzeugen ausdrücklich berichtet. In erschüt-
ternder Predigt bewies Stifel den Andächtigen, die seinen Worten be-
reitwilligst Glauben schenkten, dass die letzte Stunde nahe sei. Darob
grosses Wehklagen insbesondere der anwesenden Frauen. Gegen 9 Uhr
entliess Stifel die Gemeinde nach Hause mit den Trostworten: Er-
schrecket nicht, er kommt als ein Bruder und nicht als Feind! Als
aber 9 Uhr vorüber war, kamen statt des jüngsten Gerichtes Abgesandte
des Kurfürsten, welche den Propheten in einen Wagen steckten und nach
Wittenberg führten, wo er versprechen musste, vom Amte entfernt das
Urteil des Fürsten erwarten zu wollen.

Es gehört nicht zu meiner Aufgabe, hier über Michael Stifel’s
fernere Lebenschicksale — sein Todesjahr war erst 1567 — zu berichten.
Ich erwähne nur, dass der leichtgläubige Phantast, als welcher er durch die
Ereignisse von 1533 gekennzeichnet ist, nicht nur mathematisch begabt,
wie ich schon sagte, sondern geradezu der hervorragendste deutsche Mathe-
 
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