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Brodersen, Kai; Kiesel, Helmuth [Editor]; Dölling, Dieter [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Rausch — Berlin, Heidelberg [u.a.], 43.1999

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4065#0241
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Ästhetische Erfahrung als Rauschzustand 239

Abb. 1. Sherwood Anderson (1876-1941). Amerikanischer Schriftsteüer,
Hauptwerk: Winesburg, Ohio (1919)

Der hier beschriebene Zustand hat mit einer Benebelung der Sinne nichts
zu tun. Er ist durch geistige Klarsicht gekennzeichnet. Sherwood Anderson
sieht sich durch die Turgenjew-Lektüre nämlich auf den eigenen Weg als
Schriftsteller gebracht. Er ist begeistert von Turgenjews Kunst, die ihm eine
Steigerung der eigenen Lebenskräfte vermittelt.

Sherwood Anderson hat hier einen Zustand in aller Ausdrücklichkeit be-
schrieben, den jeder Leser kennt, der durch die Begegnung mit einem literari-
schen Text, der ihn begeistert, regelrecht aus der Bahn geworfen wird, aus der
Bahn des Alltags und der Normalität.

Wie ist solcher Augenblick der Begeisterung vor dem Kunstwerk, der Be-
geisterung in der Konfrontation mit einer Dichtung begrifflich zu fassen? Für
eine sachgerechte Antwort scheint mir eine Orientierung an Nietzsches Be-
griff des „ästhetischen Zustands" hilfreich zu sein.

//. Der „ästhetische Zustand"
"

Der Begriff „ästhetischer Zustand" findet sich in jeweils verschiedener Be-
deutung bei Friedrich Schiller, Friedrich Nietzsche und Max Bense. Schiller
versteht darunter Stufe zwei der Erziehung des Menschen zu seiner Bestim-
mung: auf den „physischen Zustand" folgt der „ästhetische Zustand". Und auf
den „ästhetischen Zustand" folgt der „moralische Zustand". Und doch heißt
die einschlägige Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in ei-
ner Reihe von Briefen und nicht über die moralische Erziehung des Men-
schen, denn „es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig
zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht". Der Weg zur
„Wahrheit und zur Pflicht" führt über die „Schönheit", d.h. über die Ausbil-
dung „ästhetischer Kultur". Der Schritt aber vom ästhetischen Zustand zum
 
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