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Brodersen, Kai; Kiesel, Helmuth [Hrsg.]; Dölling, Dieter [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Rausch — Berlin, Heidelberg [u.a.], 43.1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.4065#0243
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Ästhetische Erfahrung als Rauschzustand 241

Mittel überhaupt), das selektiv über einen kommunikationsfähigen Kode semantischer De-
termination zu einem Träger der ästhetischen Zustände kreativ umrealisiert wird.8

Kreativ, so erläutert Bense, heiße soviel wie „neu", „innovativ", „original"
und impliziere „selektive Prozesse", die „repertoireabhängig" seien. Mit ei-
nem Wort: der „ästhetische Zustand" ist für Max Bense eine Eigenschaft des
Kunstwerks als „Objekt", jene Eigenschaft nämlich, durch die sich dieses
Objekt als „künstlerische" Produktion definiert. Eine künstlerische Produkti-
on ist ein objektiv hinterlegter „ästhetischer Zustand".

Mit diesem Exkurs zu Max Benses informationstheoretischer Ästhetik ist
die Folie für Nietzsches Verwendung des Ausdrucks „ästhetischer Zustand"
gegeben. Für Nietzsche bedeutet dieser Begriff den kunstschaffenden Zu-
stand, der durch das Werk, d.h. durch das Kunstwerk auf den Leser übertragen
wird. Der „ästhetische Zustand" ist also für Nietzsche keine Eigenart des
Kunstwerks, sondern der Zustand, in den der Leser (oder Betrachter) durch
das Kunstwerk versetzt wird. Dieser Zustand aber ist kein beliebiger Zustand,
sondern ein Zustand gesteigerter Lebensfreude, ein Zustand der Begeisterung,
mit einem Wort: ein Rauschzustand.

Unter der Überschrift Aesthetica hat Nietzsche im Herbst 1887 den „ästhe-
tischen Zustand" definiert, dies aber beiläufig. Als Gegenbegriff wird der „un-
künstlerische Zustand" benannt. Dieser Ausdruck aber wird von Nietzsche
grundsätzlich im Plural verwendet, weil es von der Sache her nur einen
„ästhetischen Zustand", aber unzählige „unkünstlerische Zustände" gibt. Den
logisch naheliegenden Ausdruck „künstlerischer Zustand" benutzt Nietzsche
an dieser Stelle nicht. Ganz offensichtlich ist der streunende Begriff „ästheti-
scher Zustand" erst durch Martin Heideggers Nietzsche-Monographie aus
dem Jahre 1961 zum herausragenden Terminus, ja zum Etikett für Nietzsches
Grundstellung zum Leben geworden. Was aber versteht Nietzsche unter dem
„ästhetischen Zustand"? Er sagt:

- und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Be-
gierden ist der ästhetische Zustand?

Es wird sofort klar, daß dieser „ästhetische Zustand" ein Zustand des Sub-
jekts ist, das betrachtet, das erlebt, und kein Zustand eines Gegenstandes, der
betrachtet wird. Fast unmittelbar im Anschluß an die zitierte Passage notiert
Nietzsche:

Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß
und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; anderer-
seits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten
Lebens; - eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.10

Ebd., 33.

Nietzsche, Bd. 12, 393.

Ebd., 394.
 
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