Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
I. Einleitung

Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem
fernen Ziel ist ein König. Er assimilirt sich allmählich die Masse seiner Unter-
thanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie weni-
ge tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?1
Novalis beschreibt in seiner Vorrede zu Glauben und Liebe oder der König und
die Königin vor allem eines: den Höhepunkt des genealogischen Denkens, wie es sich
im alten Europa über Jahrhunderte ausgebildet hatte. Genealogie hat bei Novalis
neben der stetigen Legitimierung des dynastischen Erbprinzipes die Kompetenz-
erweiterung erfahren, jedes soziale Individuum allein durch eine entsprechende Er-
ziehung zum potentiellen Prätendenten für die Staatslenkung machen zu können.
Genealogie kommt nicht mehr die Funktion eines Auswahlregulativs für die Staats-
lenkung zu, sondern sie wird zu einer Qualität, die für jeden erreichbar ist und nur
noch der individuellen Verwirklichung bedarf.
Die »Fürstwerdung« wurde für Novalis, so Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn,
zur »utopischen Approximation des politischen Gattungswesens >Bürger< an das
fürstliche Ideal«.2 Das Grundprinzip monarchischen Denkens, die Annahme eines
Idealmenschen, einer Person, die qua Geburt zur Herrschaft befähigt ist, wird hier
nicht etwa zur Disposition gestellt, sondern zur Egalisierung freigegeben. Obwohl
die politischen Systeme des 19. Jahrhunderts geburtsständisch orientiert blieben, war
nun doch jedem zur Herrschaft befähigten Kandidaten zumindest theoretisch der
Weg zur Staatslenkung geebnet. Seit dem 19. Jahrhundert konnte jeder, unabhängig
vom Geburtsprinzip, zum Objekt eines Messianismus werden, war jeder zu einem
»charismatischen Führertum« im Sinne von Max Weber befähigt - mit allen hieraus
erwachsenden Konsequenzen.
Durch die Transformation des organologischen zum qualitativen Herrschafts-
beweis wurde Genealogie in ihrer Funktion als politische Denkform am Ende des
Ancien Regime in Sinne von Novalis zwar omnipräsent, zugleich aber auch para-
lysiert. Genealogie mußte sich zur Aporie für alle diejenigen ausweiten, die sich ihrer
als Herrschaftsargument bedient hatten. Schließlich wurde genealogisches Denken
im 18.Jahrhundert soweit säkularisiert, daß es selbst auf biologische Klassifi-
zierungsschemata wie etwa die Carl von Linnes übertragen werden konnte. Michel

1 Novalis 1996, S. 135.
2 Berns/Rahn 1995, S. 664.
 
Annotationen