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«... der Deutsche säuft und zählt die Ahnen«.
(Goethe zitiert den von französischer Seite den
Deutschen unterstellten Nationalcharakter)46 47
II. »... das es allein an den Wappen
unserer Anchen mangeln thutt«r7
Genealogie als epistemische Denkform
Politische Verbindungen zwischen den einzelnen europäischen Ländern waren in
Mittelalter und Früher Neuzeit vor allem Verbindungen, die über die große europä-
ische Regierungsbank, über die Eheallianzen der einzelnen Dynastien geknüpft wur-
den. Gerade diese Eigenart einer dynastischen Personalstruktur ist jedoch für eine
Herangehensweise schwer verständlich, die stets auf der Suche nach den Erzeug-
nissen einer Sachkultur an diese Vergangenheit herantritt. Möglicherweise ist es
dieser rationalisierte Blick auf die Realien, der im Umgang mit mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Genealogien dazu tendiert, in ihnen lediglich den puren Daten-
speicher zu erkennen. Wenn Genealogien dann auch noch in Teilen mit einer fik-
tionalen Linienführung argumentieren, wird ihnen auch ihre letzte Funktion ab-
gesprochen: das unter wissenschaftlichen Kriterien operierende kulturelle Ge-
dächtnis. So gesehen gerät die Leistungsfähigkeit genealogischer Modelle leicht aus
dem Blick.
Demgegenüber steht die bereits angesprochene, völlig andere Sichtweise, welche
im genealogischen Denken jenseits der empirischen Abfrage familiärer Daten ein
politisches Erfolgsmodell für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit wiedererkennt.
Wegen dieser Kapazität wurde Genealogie besonders vom 15. bis zum 17.Jahr-
hundert zu einem zentralen Regulativ zwischen gesellschaftlicher Kontinuität und
Veränderung, indem sie Gedächtnisbildung am sozialen System der Verwandtschaft
betrieb. Gleichwohl hatte die Kompetenz des genealogischen Strukturprinzips für so-
ziale Ordnung und Transformation noch grundlegendere und zeitlich weiter zu-
rückreichende Ursachen. Claude Levi-Strauss etwa sieht in der menschlichen Ehe-
verbindung eine allgemeine anthropologische Grundkonstante; mit allen daraus ab-

46 Zit. nach Oechslin 1995, S.405f.
47 Landgraf Georgi, von Hessen-Darmstadt in einem Brief vom 22.Juli 1589 an den Kanzler
Dr. Heinrich Hundt in Kassel, Staatsarchiv Marburg, Best. 4c Hessen-Darmstadt, Nr. 367.
 
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