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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 51.1903

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Heft 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.55112#0093
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zu seinem Glück noch zur rechten Zeit uud ging
mit freundlichem Lächeln vorüber. Sein Herz
klopfte in hörbaren Schlägen, als er sich der Tür
des Kassenzimmers näherte, denn es gab ja nach
seiner Überzeugung für die seelenruhige Gelassenheit
des Pförtners keine andere Erklärung alH die An-
nahme, daß durch irgend einen — allerdings un-
begreiflichen — Zufall die Reinigung des Tresor-
raumes heute unterblieben, und der Tote infolgedessen
noch nicht gefunden morden sei. Er mußte darauf
gefaßt sein, den verstorbenen Rendanten noch ans
seinem Platz vor dem Tische zu finden, und es kostete
ihn Überwindung genug, seinen Gang nicht zu ver-
langsamen, und nicht in verdächtigem Zaudern au
der Tür zu verharren, ehe er seine Hand auf den
Drücker legte.
Jetzt war es geschehen. Bartel kniff die Augen
zusammen, während er über die Schwelle trat, und
erst als er ein paar Schritte ins Zimmer hinein getan
hatte, riß er sie mit einer gewissen Anstrengung wieder
auf. Aber mit grenzenlosem Erstaunen nahm er
wahr, daß seine Vermutung ihn betrogen hatte, daß
der tote Winter nicht mehr vor seinem Schreibtisch
saß, und daß hier alles genau so aussah, wie er es
bisher au jedem Morgen gefunden hatte.
Musterhafte Ordnung überall — die Fenster ge-
öffnet, nm der frischen Morgenluft den Zutritt zu
gestatten — der Geldschrank geschlossen — und von
dem Schlüsselbund, der bei Bartels Fortgehen in
der Tür des Tresors gesteckt hatte, nirgends etwas
zu sehen!
Also hatte man die Leiche doch gefunden und
fortgeschafft! Aber wie in aller Welt war es mög-
lich, daß man ein solches Ereignis so ruhig hinnahm,
daß der Pförtner Nitschke gemächlich vor der Tür
stehen konnte, nm die Morgensonne zu genießen —
und daß sich nirgends im Hause irgend welche Spuren
von Aufregung bemerklich machten?
Ganz benommen von der Seltsamkeit der Situation
hängte Bartel seinen Hut an den gewohnten Platz.
Jni nächsten Moment aber gab er sich wieder einen
Ruck, denn die Tür zum anstoßenden Registratur-
zimmer wurde geöffnet, und einer der Rechnungs-
beamten steckte den Kopf herein.
„Guten Morgen, Bartel! — Schön, daß Sie da
sind! Der Generaldirektor hat schon zweimal nach
Herrn Winter fragen lassen. Vielleicht gehen Sie
hinauf, sich nach seinen Wünschen zu erkundigen."
Der Buchhalter starrte ihn an, als hätte er in einer-
fremden Sprache zu ihm geredet. War es denn Wirklich-
keit, was er da erlebte, oder narrte ihn ein allzu leb-
hafter Traum? Hier wußte ja offenbar überhaupt
niemand etwas vom Tode des Rendanten — sein
Kollege so wenig als der Portier Nitschke und als
der Generaldirektor, der schon zweimal hatte nach
Winter fragen lassen. Aber wenn diese alle nichts
davon wußten, wer hatte dann die Leiche gefunden —
wer hatte sie sortschaffcn lassen — und wohin?
In einem Zustande der Bestürzung und Ver-
wirrung, den ein scharfes Auge ihm wohl leicht
genug angemerkt hätte, stieg Bartel die Treppe znr
Wohnung des Generaldirektors empor.
Der alte Herr war ersichtlich in übler Laune
und ließ den Buchhalter nicht eben gnädig an. „Sie
können mir gar nichts nützen — ich muß den Ren-
danten selbst sprechen und zwar so bald als mög-
lich. Ich wollte ihn nicht in seinem Morgen-
schlummer stören lassen; denn er hat wahrscheinlich
wieder die halbe Nacht hindurch gearbeitet. Länger
aber kann ich unmöglich warten, und es ist ja auch
schon neun Uhr vorüber. Gehen Sie also in Gottes
Namen und klingeln Sie ihn wach!"
Bartel gehorchte. Denn in seinem augenblicklichen
Zustande würde er rein mechanisch alles getan haben,
was man von ihm verlangte.
Als er die Glocke an der Tür der Winter-
schen Wohnung zog, kam der Pförtner von seinem
Platz vor dem Haustor in den Flur herein und sagte:
„Der Herr Rendant wird wohl noch schlafen. Er
ist ja erst gegen fünf Uhr in seine Wohnung hinüber-
gegangen und hat sich dann noch nicht einmal zur
Ruhe gelegt. Meine Frau hat mir erzählt, wie
lange er noch in allen Stuben herumgewandert ist."
Den Buchhalter schwindelte. Geschahen denn
Zeichen und Wunder? — Konnten die Toten auf-
stehen und wandeln?
Er mußte an dem Türpfosten eine Stütze suchen,
während er wieder und wieder den Klingelzug in
Bewegung setzte. Dann, als sich auch nach Verlauf
von fünf Minuten drinnen noch immer nichts geregt
hatte, wandte er sich mit heiser klingender Stimme
an den Pförtner: „Gehen Sie zu dem Herrn General-
direktor hinauf, Nitschke, und sagen Sie ihm, daß
Herr Winter nicht öffnet. Vielleicht — vielleicht ist
ihm ein Unglück zugestoßen — und man — man
wird nach einem Schlosser schicken müssen."

Ückte; Kapitel.
In dem Geschäftshause der Bergwerksgesellschaft
hatte wohl kaum jemals eine so gewaltige Aufregung
geherrscht als an diesem Vormittag.
Nachdem er selbst noch einen ebenso energischen
als fruchtlosen Versuch gemacht, Einlaß in die ver-
schlossene Wintersche Wohnung zu erhalten, hatte
der Generaldirektor endlich einen Schlosser holen und
die Tür öffnen lassen. Aber die allgemein gehegte
Vermutung, daß man den Rendanten krank oder-
gar tot in seinem Bette finden würde, hatte sich nicht
bestätigt. Die Wohnung war leer, und in der
Schlafstube wie im Wohnzimmer herrschte eine Un-
ordnung, wie wenn jemand in großer Hast die Vor-
bereitungen zu einer Reise getroffen hätte. Der
Kleiderschrank und die Kommodenschnbladen waren
geöffnet. Einige Wäschestücke lagen auf dem Fuß-
boden verstreut. Die beiden Betten im Schlafzimmer
aber waren vollständig unberührt.
„Den Teufel auch!" polterte der Generaldirektor,
auf dessen Gesicht sich bei diesen Wahrnehmungen
deutlich das fatalste Erstaunen malte. „Das sieht
ja beinahe aus, als ob der Herr Rendant nächtlicher-
weile auf und davon gegangen wäre. Hoffentlich
hat er uns wenigstens die Schlüssel zum Geldschrank
znrückgelassen."
Man suchte, aber nian suchte vergebens. Die
Schlüssel waren ebensowenig aufzufinden als irgend
eine Aufzeichnung, die das plötzliche Verschwinden
Winters erklärt hätte. Alles, was sich zunächst fest-
stellen ließ, war die Tatsache, daß der Bewohner-
sehr eilig seinen Koffer gepackt haben mußte, und
daß er dann aus dem Hause verschwunden war —
niemand vermochte zu sagen, wohin.
Ein dringendes Telegramm und bald danach noch
ein zweites, das in nachdrücklichster Weise nm Mit-
teilungen über den mutmaßlichen Aufenthalt des
Rendanten bat, wurde an Fran Winter nach Spindel-
mühle abgesandt. Aber man wartete natürlich nicht
in untätigem Zaudern aus das Eintreffen der Ant-
wort, sondern schickte sofort einen Boten in die Geld-
schranksabrik, die den Tresor geliefert hatte, um Ar-
beiter zum Öffnen desselben zu requirieren.
„Wenn irgendwo des Rätsels Lösung zu finden
ist, so liegt sie da drinnen," sagte der Generaldirektor,
dessen sich eine ständig wachsende Aufregung be-
mächtigt hatte.
Diesmal hatte seine Ahnung ihn nicht getäuscht.
Denn als es den auf solche Arbeit eingerichteten
Leuten gelungen war, die Tür des Kassenschrankes
ohne allzu große Zerstörung des Schlosses zu öffnen,
fand die plötzliche Abreise Winters mit einem Schlage
ihre ebenso natürliche als niederschmetternde Er-
klärung.
Der Tresor war seines ganzen Inhalts an barem
Gelds beraubt. Das Portefeuille, das die Banknoten
enthalten hatte, war leer, und in dem besonders ver-
schließbaren Fach, in welchem das in Rollen und Beutel
verpackte Gold verwahrt wurde, fand sich nur eine
geringfügige Summe in Silber- und Kupsermünzen.
Nichts war zurückgeblieben als die Wertpapiere,
deren Veräußerung dem Diebe als ein zu gefährliches
Beginnen erschienen sein mochte. In großen Brief-
umschlägen sorgfältig geordnet, lagen sie noch auf
ihren alten Plätzen, und jedes Kuvert war von
Winters pedantisch deutlicher Handschrift mit einem
Vermerk über den Inhalt versehen. Auf dem einen
stand „Kautionen", auf einem anderen „Gewerkengut-
haben", und ans einem der Umschläge war in großen,
ersichtlich mit besonderer Liebe gemalten Buchstaben
zu lesen: „Privatvermögen des Rendanten Winter."
„Er muß es sehr eilig gehabt haben, unser Herr-
Rendant," sagte der Generaldirektor, der mit zittern-
den Fingern den Inhalt des Tresors durchmusterte,
in einer Anwandlung von bitterem Galgenhumor,
„da er in der Hast der Abreise sogar vergessen könnte,
sein rechtmäßiges Eigentum mit sich zu nehmen."
Im übrigen aber war der alte Herr durchaus
nicht zum Scherzen aufgelegt. Er wußte, daß dieser
mit so unerhörter Dreistigkeit ausgeführte Diebstahl
einen schweren Schlag für seine Gesellschaft bedeute,
denn mit Rücksicht auf die in den nächsten Tagen
fälligen erheblichen Zahlungen mußte sich eine sehr
große Summe baren Geldes in dem Schranke be-
funden haben. Schon nach dem ersten Blick in die
leeren Behälter hatte er sich an Bartel gewendet
mit dem Befehl, aus dem Kassabuche so rasch als
möglich den Gesamtbetrag der Barsumme auszu-
ziehen, die hätte vorhanden sein müssen. Der Buch-
halter, an dem alle diese unbegreiflichen Dinge noch
immer vorüberzogen wie die abenteuerlichen Vor-
spiegelungen eines tollen Traumes, hatte mit pochen-
den Schläfen und mit kalten Schweißtropfen auf der
Stirn die langen Zahlenreihen summiert, um als
das Ergebnis seiner Berechnung dem Vorgesetzten
mitzuteilen, daß der Bestand sich auf ungefähr drei-
hunderteinundachtzigtaussnd Mark belaufen müßte.

Ein Ausruf grimmigen Zornes kam von den
Lippen des Generaldirektors. „Ah, dieser Schurke! —
Und wie geschickt er all die Jahre hindurch den ehr-
lichen Mann zu spielen wußte! — Aber, so wahr
ich lebe, er soll uns nicht entkommen."
Er sandte einen der Registraturbeamten zur
Polizei, um Anzeige von dem Vorgefallenen zu er-
statten.
Freilich war es nur die Größe der gestohlenen
Summe und die Wahrscheinlichkeit, im Fall einer
baldigen Ergreifung noch den bedeutendsten Teil der-
selben im Besitz des Diebes zu finden, die ihn dazu
bestimmten, denn es ist ja bei industriellen Privat-
gesellschaften zumeist Gebrauch, die durch Untreue
von Angestellten entstandenen Verluste stillschweigend
zn tragen, um eine Erörterung des Vorfalles in der
Presse und im Publikum zn verhindern. Fällt doch
dabei immer ein mehr oder weniger ungünstiges
Licht ans die verantwortlichen Leiter des Unter-
nehmens, und sind doch die Aussichten ans eine Wieder-
erlangung des gestohlenen Geldes zudem in den
meisten Fällen sehr gering, da es sich gewöhnlich bei
dxr endlichen Entdeckung nur um die letzte in einer
langen Reihe von Unterschlagungen handelt, und der
Flüchtige nur sehr selten in der Lage gewesen ist,
eine erhebliche Barsumme mit sich zn nehmen.
Hier aber war die Sachlage eine ganz außer-
gewöhnliche. Von einer Verheimlichung des gewal-
tigen Verlustes könnte daher um so weniger die Rede
sein, als sich im Augenblick noch gar nicht abseheu
ließ, wie die Gesellschaft der durch den Raub hervor-
gerufenen Verlegenheiten Herr werden würde. Denn
in den nächsten Tagen waren Hunderttansende zn
zahlen, und nur mit äußerster Anspannung aller
Kräfte konnte es im günstigsten Fall gelingen, einer-
verhängnisvollen Stockung in der Erfüllung der
lausenden Verbindlichkeiten vorzubeugen.
(Fortsetzung folgt.)

Lin Äägsrlcksrr.
(5!o!io da; Uilil ouk 5s!to 74.)
rxer Humor ist von jeher- ein unzertrennlicher Begleiter
" des edlen Waidwerks gewesen, und wie er in dein
bekannten Jägerlatein oft die köstlichsten Blüten treibt,
so kommt er zuweilen auch in den lustigen Streichen
zum Ausdruck, die St. Hubertus' übermütige Jünger
einander zu spielen lieben. Der alte Herr auf unserem
Bilde, der allem Anschein nach der weitverbreiteten
Gilde der Sonntagsjäger angehört, weiß ein Liedchen
davon zu singen. Für ihn mochte es ein nicht gewöhn-
liches Jagdglück bedeuten, als er auf einen in einer
Bodenfurche Männchen machenden Hasen so erfolgreich
zu Schuß kam, daß der sonst so flüchtige Meister Lampe
wie umgeblasen zur Seite fiel und nicht einmal Zeit
hatte, die üblichen zwei oder drei Purzelbäume zu schla-
gen. Ein Treiber wurde ausgeschickt, die Beute schleu-
nigst in Sicherheit zu bringen, aber der glückliche Schütze
ließ es sich im Hochgefühl seines Triumphes nicht nehmen,
ihm auf dein Fuße zu folgen. Und da mußte er es zu
seiner grimmigen Enttäuschung erleben, daß ihm der
verschmitzt grinsende Bursche statt des vermeintlich er-
legten Langohrs einen Popanz entgegenhielt, ein mit
Stroh ausgestopftes Hasenfell, das freilich wohl ein dank-
bareres Zielobjekt abgeben mußte als ein lebendiger
Hase. Der Jubel der hinter einer Hürde auftauchenden
Jagdgenossen läßt vermuten, daß sie nicht unbeteiligt
sind an dieser „freudigen Überraschung". Dem bedauerns-
werten Nimrod aber wird kaum etwas anderes übrig
bleiben, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und
sich mit der Hoffnung auf den Tag zu vertrösten, da es
ihm vergönnt sein wird, den Schabernack mit Zinsen
zurückzuzahlen.
Lin Morgsli in 6sr Vals.
(Zisks 6n5 Kil6 auk Zeile 82.)
rxie märchenhafte Schönheit der Oasen, die aus dem
scheinbar unendlichen Sandmeere der nordafrikani-
schen Wüsten hie und da als scharfumgrenzte grüne
Inseln emportauchen, ist von den Orientmalern in den
glühendsten Farben geschildert worden. Eine prächtige
Darstellung dieser Art ist es, die wir den Lesern in
unserem Bilde auf Seite 82 vorführen. Die von dem
Künstler meisterhaft wiedergegebene Morgenbeleuchtung
offenbart uns den Zauber der Tropenvegetation in all
ihrer verschwenderischen Üppigkeit und berauschenden
Pracht. Ünd wir begreifen angesichts dieses Landschafts-
bildes die Begeisterung, die den Wüstenwanderer nach
tagelangem Ritt durch die todesstarre Öde bei seinem
Eintritt in diese sarbensatte und lebensvolle Welt über-
kommt. Die Wirkung auf Auge und Gemüt ist die
eines lieblichen Wunders, und die unvermittelte Schroff-
heit der Gegensätze trägt natürlich nicht wenig zur Er-
höhung des Reizes bei. Erstaunlich ist es in der Tat,
welche Fülle von pflanzlichem Leben ein winziges Bäch-
lein ein in einer Talmulde angesammelter See von
Regenwaffer oder ein von Menschenhand gebohrter ar-
tesischer Brunnen aus dem unfruchtbaren Wüstensand
hervorzuzaubern vermag. In erster Linie ist es die so
 
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