Schillers Geisterseher
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dessen geheiligte Person nicht direkt von einer solchen Herabsetzung
getroffen werden darf. Die psychologische Entstehung der Karikatur,
erst mittels Geste und Maske, dann durch das Zerrbild, knüpft an
diese Voraussetzungen an.
Wir haben hinter dem bei Schiller so häufig wiederkehrenden
Motiv der Auflehnung und Empörung die alte Feindseligkeit gegen
den Vater gesucht. Wir wollen noch eine Stelle aus »Maria Stuart«
nachtragen, die hieher zu gehören scheint:
Maria:
Was? Euer Oheim, euer zweiter Vater?
Mortimer:
Von meinen Händen stirbt er. Ich ermord' ihn.
Die Ersetzung des Oheims durch den Vater, die wir für den
»Geisterseher« vermutet haben, wird hier, wie in jener schon zitierten
Stelle des »Teil«, deutlich ausgesprochen. Das Motiv des Mordes
ist die Errettung der Geliebten, einer nicht mehr jugendlichen, fast
schon verblühten Frau durch einen schwärmerischen Jüngling. Da
der zu beseitigende Wächter der Vater ist, so haben wir einen recht
durchsichtigen Fall der typischen »Mutter^Rettungs-Phantasie« vor
uns. Das erotische Begehren als treibende Kraft wird in der Gestalt
des sinnlichen Gewaltmenschen Mortimer aufs höchste anschaulich
gemacht. In abgeschwächter Form finden wir dieselbe Situation im
»Teil« wieder, wo Rudenz durch den Wunsch, seine eingekerkerte
Bertha zu befreien, zum Anschluß an die Verschwörung und zu
offener Gewalttat getrieben wird. Auch die Befreiung einer anderen
Bertha aus dem Gefängnis, nämlich in »Fiesko«, reizt ihren Liebhaber
Burgognino zum Tyrannenmord auf und hier ist der Ermordete
sogar direkt als sexueller Rivale geschildert, der auf seine Macht
trotzt und sich der rohen Gewalt bedient. Am deutlichsten ist die
Ursache des Vaterhasses im »Don Carlos« ausgesprochen, wo die
Liebe zur Mutter in den Vordergrund tritt.
In dem gleichzeitig entstandenen »Geisterseher« ist es wieder
in den Schatten gerückt,- Herrschsucht und Rachgier treiben den
Prinzen zum Verbrechen. Aber neben dem Fürsten steht als zweiter
Vaterrepräsentant der Armenier und diesen sehen wir kurz vor dem
Abbrechen des Romanes in geheimnisvolle Beziehungen zur Geliebten
des Prinzen verwidcelt, denen, wie die Erzählung Civitellas andeutet,
das erotische Moment nicht fehlt. Haben wir früher vermutet, daß
die Aufnahme dieser weiblichen Figur daran mitschuldig war, daß
Schiller das Werk unvollendet ließ, so sehen wir jetzt die Umrisse
jener Gewalten, die hemmend in das Räderwerk seiner Produktion
eingriffen, schon etwas schärfer. Wir müssen uns aber nicht nur auf
die innere Verwandtschaft mit dem »Don Carlos« berufen, denn
der »Geisterseher« enthält, wie wir wissen, auch das zweite Lieb^
lingsmotiv Schillers, die Rivalität der Brüder in der Erzählung des
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dessen geheiligte Person nicht direkt von einer solchen Herabsetzung
getroffen werden darf. Die psychologische Entstehung der Karikatur,
erst mittels Geste und Maske, dann durch das Zerrbild, knüpft an
diese Voraussetzungen an.
Wir haben hinter dem bei Schiller so häufig wiederkehrenden
Motiv der Auflehnung und Empörung die alte Feindseligkeit gegen
den Vater gesucht. Wir wollen noch eine Stelle aus »Maria Stuart«
nachtragen, die hieher zu gehören scheint:
Maria:
Was? Euer Oheim, euer zweiter Vater?
Mortimer:
Von meinen Händen stirbt er. Ich ermord' ihn.
Die Ersetzung des Oheims durch den Vater, die wir für den
»Geisterseher« vermutet haben, wird hier, wie in jener schon zitierten
Stelle des »Teil«, deutlich ausgesprochen. Das Motiv des Mordes
ist die Errettung der Geliebten, einer nicht mehr jugendlichen, fast
schon verblühten Frau durch einen schwärmerischen Jüngling. Da
der zu beseitigende Wächter der Vater ist, so haben wir einen recht
durchsichtigen Fall der typischen »Mutter^Rettungs-Phantasie« vor
uns. Das erotische Begehren als treibende Kraft wird in der Gestalt
des sinnlichen Gewaltmenschen Mortimer aufs höchste anschaulich
gemacht. In abgeschwächter Form finden wir dieselbe Situation im
»Teil« wieder, wo Rudenz durch den Wunsch, seine eingekerkerte
Bertha zu befreien, zum Anschluß an die Verschwörung und zu
offener Gewalttat getrieben wird. Auch die Befreiung einer anderen
Bertha aus dem Gefängnis, nämlich in »Fiesko«, reizt ihren Liebhaber
Burgognino zum Tyrannenmord auf und hier ist der Ermordete
sogar direkt als sexueller Rivale geschildert, der auf seine Macht
trotzt und sich der rohen Gewalt bedient. Am deutlichsten ist die
Ursache des Vaterhasses im »Don Carlos« ausgesprochen, wo die
Liebe zur Mutter in den Vordergrund tritt.
In dem gleichzeitig entstandenen »Geisterseher« ist es wieder
in den Schatten gerückt,- Herrschsucht und Rachgier treiben den
Prinzen zum Verbrechen. Aber neben dem Fürsten steht als zweiter
Vaterrepräsentant der Armenier und diesen sehen wir kurz vor dem
Abbrechen des Romanes in geheimnisvolle Beziehungen zur Geliebten
des Prinzen verwidcelt, denen, wie die Erzählung Civitellas andeutet,
das erotische Moment nicht fehlt. Haben wir früher vermutet, daß
die Aufnahme dieser weiblichen Figur daran mitschuldig war, daß
Schiller das Werk unvollendet ließ, so sehen wir jetzt die Umrisse
jener Gewalten, die hemmend in das Räderwerk seiner Produktion
eingriffen, schon etwas schärfer. Wir müssen uns aber nicht nur auf
die innere Verwandtschaft mit dem »Don Carlos« berufen, denn
der »Geisterseher« enthält, wie wir wissen, auch das zweite Lieb^
lingsmotiv Schillers, die Rivalität der Brüder in der Erzählung des