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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.2
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Kaplan, Leo: Der tragische Held und der Verbrecher
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0112
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Leo Kaplan

Erinnyen; Nicht war ihr blutsverwandt, den sie erschlug,
Orestes: Ich aber bin von meiner Mutter Blut?
Erinnyen: Trug sie dich, Mörder, unter'm Gürtel nicht?
Verleugnest du der Mutter teures Blut?
Apollon: Erzeug'rin ihres Kindes ist die Mutter doch nicht,
ist Pflegerin nur gesagten Keims,-
Es zeugt der Vater, sie bewahrt das Pfand,
Dem Freund die Freundin, wenn's kein Gott versehrt,
Die Erinnyen verfolgen nur Verbrechen gegen Blutsverwandte, wobei
sie die Verwandtschaft nur nach mütterlicher Linie anerkennen: sie
sind also Anwälte des Mutterrechts. Im Gegensatz zu ihnen er-
scheint Apollon als der Verteidiger des Vaterrechts. Wir sehen hier
den Kampf zweier verschiedener Kulturstufen: die ablebende mutter-
rechtliche Gesellschaftsordnung sucht sich gegen die aufkommende
vaterrechtliche Ordnung zu behaupten. In Erwartung des Gerichtes
geben die den Ausgang ahnenden Erinnyen ihrem LInwilien Ausdruck:
Umsturz verkündet uns das neue Recht,
Wenn Schuld und Sdrmach des Muttermörders siegt!
Die Freisprechung Orestes' bedeutet also den Umsturz, Orestes ist
somit der Staatsverbrecher. Die Staatsanwaltschaft <in welcher
Rolle die Erinnyen auftreten) steht immer im Dienste der Intern
essen der alten sozialen Ordnung, die sie gegen das neu
Aufkommende zu verteidigen hat.
Im Verbrecher vereinigen sich oftmals zwei Naturen: wenn
die eine ihn zum Überlebten, Ehemaligen, vom Gange der Ge-
schichte Verurteilten hinzieht, so treibt ihn die andere zur Schaffung
neuer gesellschaftlicher Formen. In der Bekämpfung des Verbrechens
ist darum immer die Gefahr verborgen, mit dem Antisozialen auch
das schöpferische Prinzip, das Werdende zu zerstören.
Marmeladow.
In D ostojewskijs Roman »Schuld und Sühne«] treffen wir
eine Reihe mehr oder minder verbrecherischer Gestalten an, Wir
greifen die beiden für unseren Zweck besonders interessanten Per-
sönlichkeiten heraus, nämlich Marmeladow und Raskolnikow.
Der Trunkenbold Marmeladow wird von allen dienstlichen
Stellen fortgejagt, seine Familie geht zugrunde, die kranke Frau
Katharina Iwanowna quält sich den ganzen Tag und einen Teil
der Nacht mit den häuslichen Arbeiten und Sorgen ab. Die kaum
18jährige Sonja, die Tochter Marmeladows aus erster Ehe, mußte,
um die Familie nicht aushungern zu lassen, zur öffentlichen Dirne
werden. Seine Gewissensbisse sucht Marmeladow wiederum im

Übersetzt von Hans Moser (Reclam).
 
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