Schillers Geisterseher.
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Soll die Schöne ohne ihr Zutun zu dem Verbrechen antreiben,
so kann sie nur der Preis sein, den sieb der Prinz dadurch zu er-
obern hofft. Er könnte sie, die wie Goethes »Natürliche Tochter«
die Frucht eines fürstlichen, wenn auch illegitimen Bundes ist, zu
seiner Gemahlin erheben, sobald er gebietender Herr geworden ist,
was der abhängige Prinz niemals wagen dürfte. Zu dieser auf be-
kannten Voraussetzungen aufgebauten Hoffnung muß aber noch ein
neues anfeuerndes Moment hinzutreten, das in geheimen und
überraschenden Beziehungen liegt und die Fortdauer des von der
Geliebten ausgehenden Impulses über ihren Tod hinaus erklärt.
Hindeutungen auf etwas Derartiges liegen in der noch immer im
Rätselhaften gelassenen Herkunft der Griechin, noch mehr aber in
den vielsagenden Worten des Barons von F**: Ȇber die Familien-
Verhältnisse am Hofe sind wir bisher in einem großen Irrtum
gewesen.« Die Fortsetzung sollte uns, so scheint es, auf einen Um-
stand führen, der das Erbrecht des Prinzen entweder in Frage stellte
oder, wenigstens in seinen Augen, weit über das ihm offiziell Zu-
gestandene hinaussetzte. Dazu mußten wir in die »Familienverhält-
nisse« am Hofe eingeweiht werden, d. h. die Abenteuer und
Liebesbündnisse der älteren Generation sollten rückblickend, wohl
durch eine mit der Handlung Schritt haltende analytische Technik
aufgerollt und in die Verwiddungen der Gegenwart ursächlich ver-
woben werden. Bei einem Fürstenhaus kann es sich nur um Dinge
handeln, die sich tief verhüllt im Schoße der Familie zuge-
tragen haben, weil sie sonst allgemein bekannt geworden wären.
Es hätte sich also voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben, Vater
und Mutter des Prinzen, von denen bisher nicht mit einem Worte
die Rede war — sie hatten ja, wie wir gesehen haben, vollwertige
Ersatzpersonen gefunden — nun doch wieder aufleben zu lassen und
ihre Leidenschaften und Erlebnisse zu schildern. Auch mit der Person
jenes Verwandten, der ein Opfer des Mordanschlages werden sollte,
hätte sich die Erzählung näher befassen müssen. Kurzum, es scheint
dem Roman bestimmt gewesen zu sein, den entgegengesetzten Weg
zu gehen, wie der ihm eng verbundene »Don Carlos.« Während dieser,
der nach Schillers eigenen Worten ursprünglich als ein »Familien-
gemälde an einem fürstlichen Hofe« geplant war, sich zur Tragödie
der Fürstengewalt auswuchs, war das auf einem politischen Hinter-
grund aufgetragene Intrigenspiel des »Geisterseher« im Begriff,
in eine Familiengeschichte umzuschlagen. Dieser Gegensatz macht es
verständlich, warum das anfänglich auch als Fragment veröffentlichte
Drama vollendet werden konnte, wenn auch in ganz anderem Sinne,
als in dem es begonnen war, während der »Geisterseher« endgültig
ein Torso bleiben mußte.
Noch eine Möglichkeit wäre zu bedenken, die allerdings so
blaß ist, daß es gewagt wäre, sich ihr gänzlich anzuvertrauen.
Wenn die Abstammung des Prinzen nicht die allgemein vorausgesetzte
legitime sein sollte, so liegt eine Verwandtschaft zwischen ihm und
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Soll die Schöne ohne ihr Zutun zu dem Verbrechen antreiben,
so kann sie nur der Preis sein, den sieb der Prinz dadurch zu er-
obern hofft. Er könnte sie, die wie Goethes »Natürliche Tochter«
die Frucht eines fürstlichen, wenn auch illegitimen Bundes ist, zu
seiner Gemahlin erheben, sobald er gebietender Herr geworden ist,
was der abhängige Prinz niemals wagen dürfte. Zu dieser auf be-
kannten Voraussetzungen aufgebauten Hoffnung muß aber noch ein
neues anfeuerndes Moment hinzutreten, das in geheimen und
überraschenden Beziehungen liegt und die Fortdauer des von der
Geliebten ausgehenden Impulses über ihren Tod hinaus erklärt.
Hindeutungen auf etwas Derartiges liegen in der noch immer im
Rätselhaften gelassenen Herkunft der Griechin, noch mehr aber in
den vielsagenden Worten des Barons von F**: Ȇber die Familien-
Verhältnisse am Hofe sind wir bisher in einem großen Irrtum
gewesen.« Die Fortsetzung sollte uns, so scheint es, auf einen Um-
stand führen, der das Erbrecht des Prinzen entweder in Frage stellte
oder, wenigstens in seinen Augen, weit über das ihm offiziell Zu-
gestandene hinaussetzte. Dazu mußten wir in die »Familienverhält-
nisse« am Hofe eingeweiht werden, d. h. die Abenteuer und
Liebesbündnisse der älteren Generation sollten rückblickend, wohl
durch eine mit der Handlung Schritt haltende analytische Technik
aufgerollt und in die Verwiddungen der Gegenwart ursächlich ver-
woben werden. Bei einem Fürstenhaus kann es sich nur um Dinge
handeln, die sich tief verhüllt im Schoße der Familie zuge-
tragen haben, weil sie sonst allgemein bekannt geworden wären.
Es hätte sich also voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben, Vater
und Mutter des Prinzen, von denen bisher nicht mit einem Worte
die Rede war — sie hatten ja, wie wir gesehen haben, vollwertige
Ersatzpersonen gefunden — nun doch wieder aufleben zu lassen und
ihre Leidenschaften und Erlebnisse zu schildern. Auch mit der Person
jenes Verwandten, der ein Opfer des Mordanschlages werden sollte,
hätte sich die Erzählung näher befassen müssen. Kurzum, es scheint
dem Roman bestimmt gewesen zu sein, den entgegengesetzten Weg
zu gehen, wie der ihm eng verbundene »Don Carlos.« Während dieser,
der nach Schillers eigenen Worten ursprünglich als ein »Familien-
gemälde an einem fürstlichen Hofe« geplant war, sich zur Tragödie
der Fürstengewalt auswuchs, war das auf einem politischen Hinter-
grund aufgetragene Intrigenspiel des »Geisterseher« im Begriff,
in eine Familiengeschichte umzuschlagen. Dieser Gegensatz macht es
verständlich, warum das anfänglich auch als Fragment veröffentlichte
Drama vollendet werden konnte, wenn auch in ganz anderem Sinne,
als in dem es begonnen war, während der »Geisterseher« endgültig
ein Torso bleiben mußte.
Noch eine Möglichkeit wäre zu bedenken, die allerdings so
blaß ist, daß es gewagt wäre, sich ihr gänzlich anzuvertrauen.
Wenn die Abstammung des Prinzen nicht die allgemein vorausgesetzte
legitime sein sollte, so liegt eine Verwandtschaft zwischen ihm und