Schillers Geisterseher
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und in der höchsten Steigerung, an der Leiche des Freundes:
Don Carlos:
Ja, Sire, wir waren Brüder! Brüder durch
Ein edler Band, als die Natur es schmiedet.
Die Feindseligkeit des Nebenbuhlers war gründlich ausgemerzt
worden, so gründlich, daß an ihre Stelle die Bereitschaft zum Opfern
tod trat. Die Möglichkeit, ein Motiv in sein Gegenteil zu verkehren,
beruht auf der Ambivalenz der Gefühle, aus denen es enG
Sprüngen ist. Haß und Liebe, beide derselben Person geltend, ringen
im Seelenleben des Dichters um die Herrschaft und es braucht oft
nur eines kleinen Übergewichtes, damit der eine Affekt siegreich an
das Licht der dichterischen Gestaltung trete, während der Untere
legene völlig zu verschwinden scheint. Der äußere Anstoß, der
den Dichter dazu brachte, gerade bei diesem einen Motiv, das sich
in eine Feier der brüderlichen Freundschaft umkehren ließ, Eifer-
sucht und Haß seiner Kindertage zu vergessen, liegt am Tage.
Kurz bevor er die Arbeit am »Carlos« mit vollem Ernst auf-
genommen hatte, war Schiller mit einem ihm persönlich Unbekannten
in eine Korrespondenz getreten, die ihm die schönsten Hoffnungen
auf die Knüpfung eines innigen Freundschaftsbundes gewährte.
Während die Läuterungsarbeit an dem Drama fortschritt, verwirk-
lichte sich die Hoffnung aufs herrlichste. Der Dichter kam nach Leipzig
und lebte längere Zeit hindurch unter dem Schutze, teilweise auch
als Hausgenosse Körners. Zum erstenmal hatte er den ersehnten
Freund gefunden, mit dem sich seine Seele völlig verstand,
der ihm aber auch mit zartestem Herzenstakt beistand und, seinen
Kopf vor den ärgsten Alltagssorgen beschirmend, ihm eine Heimat
bot. Kein Wunder, wenn der Dichter seiner bisher unterdrückten
Neigung, die Freundschaft — nicht den Freund — mit dem ganzen
Feuer seines Herzens zu besingen, nun freien Lauf ließ und neben
dem Verfolger und Tyrannen auch den männlichen Freund und
Beschützer zu schildern begann.
Auch an dieser Stelle, wo die Rivalitätseinstellung von der
Zärtlichkeit verdrängt wurde, schwindet sie nicht vollständig und
spurlos. Was im Seelenleben einmal bestanden hat, ist nicht nur
vor Vernichtung geschützt, es kann nicht einmal vollständig von
seinem Platze weggedrängt werden, Eine »Wiederkehr des Ver^
drängten« findet sich auch im »Carlos«: ganz gegen das Ende zu
taucht, nur zart, aber unmißverständlich angedeutet, als anscheinend
völlig neues Motiv die Liebe des Marquis zur Königin überraschend
auf. So wird Posa schließlich doch, was sein Vorgänger Dom Juan
gewesen war, ein Nebenbuhler des Infanten bei der Mutter und
zugleich ein Vorbild des edelsten, bis in den Tod getreuen Ver-
zichtes.
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und in der höchsten Steigerung, an der Leiche des Freundes:
Don Carlos:
Ja, Sire, wir waren Brüder! Brüder durch
Ein edler Band, als die Natur es schmiedet.
Die Feindseligkeit des Nebenbuhlers war gründlich ausgemerzt
worden, so gründlich, daß an ihre Stelle die Bereitschaft zum Opfern
tod trat. Die Möglichkeit, ein Motiv in sein Gegenteil zu verkehren,
beruht auf der Ambivalenz der Gefühle, aus denen es enG
Sprüngen ist. Haß und Liebe, beide derselben Person geltend, ringen
im Seelenleben des Dichters um die Herrschaft und es braucht oft
nur eines kleinen Übergewichtes, damit der eine Affekt siegreich an
das Licht der dichterischen Gestaltung trete, während der Untere
legene völlig zu verschwinden scheint. Der äußere Anstoß, der
den Dichter dazu brachte, gerade bei diesem einen Motiv, das sich
in eine Feier der brüderlichen Freundschaft umkehren ließ, Eifer-
sucht und Haß seiner Kindertage zu vergessen, liegt am Tage.
Kurz bevor er die Arbeit am »Carlos« mit vollem Ernst auf-
genommen hatte, war Schiller mit einem ihm persönlich Unbekannten
in eine Korrespondenz getreten, die ihm die schönsten Hoffnungen
auf die Knüpfung eines innigen Freundschaftsbundes gewährte.
Während die Läuterungsarbeit an dem Drama fortschritt, verwirk-
lichte sich die Hoffnung aufs herrlichste. Der Dichter kam nach Leipzig
und lebte längere Zeit hindurch unter dem Schutze, teilweise auch
als Hausgenosse Körners. Zum erstenmal hatte er den ersehnten
Freund gefunden, mit dem sich seine Seele völlig verstand,
der ihm aber auch mit zartestem Herzenstakt beistand und, seinen
Kopf vor den ärgsten Alltagssorgen beschirmend, ihm eine Heimat
bot. Kein Wunder, wenn der Dichter seiner bisher unterdrückten
Neigung, die Freundschaft — nicht den Freund — mit dem ganzen
Feuer seines Herzens zu besingen, nun freien Lauf ließ und neben
dem Verfolger und Tyrannen auch den männlichen Freund und
Beschützer zu schildern begann.
Auch an dieser Stelle, wo die Rivalitätseinstellung von der
Zärtlichkeit verdrängt wurde, schwindet sie nicht vollständig und
spurlos. Was im Seelenleben einmal bestanden hat, ist nicht nur
vor Vernichtung geschützt, es kann nicht einmal vollständig von
seinem Platze weggedrängt werden, Eine »Wiederkehr des Ver^
drängten« findet sich auch im »Carlos«: ganz gegen das Ende zu
taucht, nur zart, aber unmißverständlich angedeutet, als anscheinend
völlig neues Motiv die Liebe des Marquis zur Königin überraschend
auf. So wird Posa schließlich doch, was sein Vorgänger Dom Juan
gewesen war, ein Nebenbuhler des Infanten bei der Mutter und
zugleich ein Vorbild des edelsten, bis in den Tod getreuen Ver-
zichtes.