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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.4
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Hitschmann, Eduard: Gottfried Keller [1]: psychoanalytische Behauptungen und Vermutungen über sein Wesen und sein Werk
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0243
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Gottfried Keller

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aus ihm herauszufischen, oder vielmehr schon entdeckt zu haben . . .
Der Beschauer, der nicht ganz seiner bewußt war, befand sich so
übel unter diesen Blicken, daß man eher versucht war auszurufen:
Weh" dem, der da steht vor der Bank der Spötter! und sich gern
in das Bild hinein geflüchtet hätte.« —
Als besonders prägnante Erscheinung verdrängter Zeigelust
ist der sogenannte Nacktheitstraum aufzufassen. Er ist ein
typischer, allgemein menschlicher Traum, aber »gehäuft geträumt« für
eine gewisse Artung des Träumers charakteristisdr.
Besonderen Eindrudt haben auf Keller offenbar durch ihre
Häufigkeit seine Nacktheitsträume gemacht1. In gewisser Form
werden sie von Keller als typisch für in der Welt Umhergetriebene
genannt. So erklärt der Maler Römer im »Grünen Heinrich«:
»Wenn Sie einst getrennt von Ihrer Heimat und von Ihrer
Mutter und allem, was Ihnen lieb ist, in der Fremde umherschweifen,
und Sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und
Sorge, sind wohl gar elend und verlassen: so wird es Ihnen des
Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern,- Sie
sehen sie leuchten in den schönsten Farben/ holde, feine und liebe
Gestalten treten Ihnen entgegen,- da entdecken Sie plötzlich, daß Sie
zerfetzt, nackt und kotbedeckt einhergehen,- eine namenlose Scham
und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und
erwachen in Sdiweiß gebadet. Dies ist, so lang es Menschen gibt,
der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes, und so
hat Homer jene Lage (des Odysseus vor Nausika) aus dem tiefsten
und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen!«
Der masochistische Anteil, das Träumen von der schmerzreichen
Reise, sowie der Komplex der Heimkehr interessieren uns hier nicht,
sondern nur die Situation der Nacktheit und erfolglosen Verhüllungs-
sucht — wie sie typisch den Nacktheitstraum darstellt.
Statt der Nacktheit findet sich bei Keller defekte Bekleidung,
»alte abgeschabte und anbrüchige Kleider« in einem Traume des
grünen Heinrich, sowie eine spukhaft immer erneuerte Verhinde-
rung beim Anlegen schönster Kleider und Wäsche. Er muß in
Scheu vor den Verwandten von einem Baum hinter den anderen
schleichen, um nicht gesehen zu werden und hat endlich alle Mühe
die alte Kleidung zum Verschwinden zu bringen: da steht auch
schon Anna vor ihm.
Ziemlich ähnlich ist sein Erscheinen vor der später so geliebten
Dorothea:
»Indem er seinen nassen Hut schwenkte, fiel derselbe gänzlich
zusammen und er hielt den übel aussehenden wie ein schlechtes
Symbol in der Hand. So stand er denn auch gar über und über
1 Im »Grünen Heinrich« findet sich die allgemeine Bemerkung über den
Nacktheitstraum, ein typischer solcher an anderer Stelle, und ferner eine Szene im
Roman, ganz analog der Situation im Nacktheitstraum: Heinrichs Zusammentreffen
mit Dorothea.
 
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