Lou Andreas=Salome
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zogenen Stück Leben, als vor »geliebter Leidie«. Denn auf dem
sexuellen Höhepunkt spielt für unser bewußtseinsbetäubtes Verlangen
nichts mehr eine Rolle als die möglichst unbehinderte Illusion gegen-
seitiger Durchdrungenheit,- die Momentekstase des Geschlechtsaktes
hebt den Andern gewissermaßen auf, und erst indem Liebende
wieder »zu sich« kommen, wird ihnen der Partner — als ein wieder
klein wenig distanzierter — deutlich als Jemand für sich und von
selbständiger Lebendigkeit. Anstatt der gleichsam wütenden Identität
mit ihm, die alles in sich komprimiert, löst sich dann diese rätseL
reiche Geheimchiffre der Einheit, in die einzelnen ausführlicheren
Liebesbezogenheiten, in denen sie zwar nur noch indirekt umschrieben,
aber dafür verständlicher artikuliert, zu Worte kommt. Diesem Ver-*
halten <das wir ohne jede Ironie das »platonischere« nennen) bieten
sich alle Sinne erotisch helfend an, um die absetzende Identität doch
dafür um so bewußter zu machen. Doch bezeichnenderweise gelingt
es vielleicht nur dem einen unserer Sinne, an die tiefsten und dun-
kelsten Vergangenheiten unfaßlicher Einswerdung leise zu rühren:
das ist der Geruchssinn, als der animalischste, d. h. von mensch-
licher Differenzierung am stiefmütterlichsten behandelte, eigentlich an
ihr ganz rückgebildete. Auf dem Boden der Anallust zu seiner
erotischen Bedeutung erwachsend, hat er später weit mehr im
Dienst ihrer Gegenbedeutung zu tun, — als Ekelvertreter/ seiner
positiven Seite nach jedoch bleibt er gleichsam eine letzte uns um--
witternde Erinnerung jener allerprimärsten Welü* und Icheinheit,
die sich analerotisch darstellte und die, ihrer groben Stofflichkeit
enthoben, doch noch durch unser ganzes Leben alles, was uns
reizt, was uns lieb wird, umschwebt wie dessen letzte Ursanktion.
Unsere übrigen Sinne haben sich erogene Zonen ausgewählt,
die sie von Anfang an gesellschaftsfähiger und wohlgesitteter loka^
lisierten: sie verblieben in Gebieten der körperlichen Entwicklung
für den Ichdienst, und sind damit einigermaßen Bürger zweier
Länder geworden. Aus Lebenszeiten, wo im infantilen Organismus
allzu genaue Grenzregulierungen zwischen Geschlechts^ oder Ich-
oberhoheit noch nicht statthatten, wurden diese Doppelexistenzen in
aller Friedlichkeit zugleich sexuell wie ichhaft beheimatet, — wodurch
ihre unklaren Rechtsverhältnisse auch zu den Zwieträchten und
Verwirrungen Anlaß geben, die unter dem Namen der Neurosen
gehen und ihnen einen bösen Leumund geschaffen haben. Von
dorther ist, was sich Sexuelles an ihnen begibt, verdächtig des
Naturverkehrten, Perversen, das sich widerrechtlich auf den Thron
setzen will, obgleich es in Wahrheit nur zwischen zwei Stühlen
sitzt. Darüber vergißt man leicht, wie außerordentlich viel Erfreu-
liches im Normalfall die oft ichmäßig hochgebildeten, aber sexuaL
kindlich gebliebenen Partialtriebe zu leisten pflegen. Wenn aus dem
Zentrum der geschlechtlichen Reife der Ruf an sie ergeht, kommen
diese halb Exilierten, ob auch über die Körperoberfläche verstreut,
in Miterregung, und stimmen ein in das Hohelied der Liebe,- als
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zogenen Stück Leben, als vor »geliebter Leidie«. Denn auf dem
sexuellen Höhepunkt spielt für unser bewußtseinsbetäubtes Verlangen
nichts mehr eine Rolle als die möglichst unbehinderte Illusion gegen-
seitiger Durchdrungenheit,- die Momentekstase des Geschlechtsaktes
hebt den Andern gewissermaßen auf, und erst indem Liebende
wieder »zu sich« kommen, wird ihnen der Partner — als ein wieder
klein wenig distanzierter — deutlich als Jemand für sich und von
selbständiger Lebendigkeit. Anstatt der gleichsam wütenden Identität
mit ihm, die alles in sich komprimiert, löst sich dann diese rätseL
reiche Geheimchiffre der Einheit, in die einzelnen ausführlicheren
Liebesbezogenheiten, in denen sie zwar nur noch indirekt umschrieben,
aber dafür verständlicher artikuliert, zu Worte kommt. Diesem Ver-*
halten <das wir ohne jede Ironie das »platonischere« nennen) bieten
sich alle Sinne erotisch helfend an, um die absetzende Identität doch
dafür um so bewußter zu machen. Doch bezeichnenderweise gelingt
es vielleicht nur dem einen unserer Sinne, an die tiefsten und dun-
kelsten Vergangenheiten unfaßlicher Einswerdung leise zu rühren:
das ist der Geruchssinn, als der animalischste, d. h. von mensch-
licher Differenzierung am stiefmütterlichsten behandelte, eigentlich an
ihr ganz rückgebildete. Auf dem Boden der Anallust zu seiner
erotischen Bedeutung erwachsend, hat er später weit mehr im
Dienst ihrer Gegenbedeutung zu tun, — als Ekelvertreter/ seiner
positiven Seite nach jedoch bleibt er gleichsam eine letzte uns um--
witternde Erinnerung jener allerprimärsten Welü* und Icheinheit,
die sich analerotisch darstellte und die, ihrer groben Stofflichkeit
enthoben, doch noch durch unser ganzes Leben alles, was uns
reizt, was uns lieb wird, umschwebt wie dessen letzte Ursanktion.
Unsere übrigen Sinne haben sich erogene Zonen ausgewählt,
die sie von Anfang an gesellschaftsfähiger und wohlgesitteter loka^
lisierten: sie verblieben in Gebieten der körperlichen Entwicklung
für den Ichdienst, und sind damit einigermaßen Bürger zweier
Länder geworden. Aus Lebenszeiten, wo im infantilen Organismus
allzu genaue Grenzregulierungen zwischen Geschlechts^ oder Ich-
oberhoheit noch nicht statthatten, wurden diese Doppelexistenzen in
aller Friedlichkeit zugleich sexuell wie ichhaft beheimatet, — wodurch
ihre unklaren Rechtsverhältnisse auch zu den Zwieträchten und
Verwirrungen Anlaß geben, die unter dem Namen der Neurosen
gehen und ihnen einen bösen Leumund geschaffen haben. Von
dorther ist, was sich Sexuelles an ihnen begibt, verdächtig des
Naturverkehrten, Perversen, das sich widerrechtlich auf den Thron
setzen will, obgleich es in Wahrheit nur zwischen zwei Stühlen
sitzt. Darüber vergißt man leicht, wie außerordentlich viel Erfreu-
liches im Normalfall die oft ichmäßig hochgebildeten, aber sexuaL
kindlich gebliebenen Partialtriebe zu leisten pflegen. Wenn aus dem
Zentrum der geschlechtlichen Reife der Ruf an sie ergeht, kommen
diese halb Exilierten, ob auch über die Körperoberfläche verstreut,
in Miterregung, und stimmen ein in das Hohelied der Liebe,- als