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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 13.1902

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Velde, Henry van de: G. Serrurier-Bovy, Lüttich
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https://doi.org/10.11588/diglit.6713#0050

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INNEN-ÜEKORATION.

serrurier-jsovv. Stuhl und Etagire (lSgg).

anzugreifen, und gerade von jener Minute an da-
tiert nun auf dem Kontinent die Renaissance im
Kunstgewerbe.

Das Möbel stand bei diesem Wiedererwachen
an erster Stelle. Das erklärt sich daher, weil wir
mit ihm in unmittelbarste Berührung kommen, weil
es unter der sichersten Kontrolle steht, seitdem
das Kriterium der Beurteilung sich geändert hat
und man sich um die Bequemlichkeit und das
Praktische mehr kümmert, als um die sogenannte
Sorge um Schönheit. Die Bequemlichkeit und
Zweckmässigkeit haben sichere und bestimmte Ge-
setze, während die Schönheit in dem Sinne, wie
unsere Eltern sie auffassten, etwas Unbestimmtes
und Schwankendes war. Die Epochen, die keinen
ganz bestimmten Stil haben, der in sich den Aus-
druck aller Eigentümlichkeiten der Wesen dieser
Epoche trägt, ihren physischen und moralischen
Karakter, und welcher in sich ihre lebendigen
Bilder wiederspiegelt, alle Vorgänge des Lebens,
physische Vorgänge und geistige Thaten lebendig
macht, diese Epochen ohne eigenen Stil können
sich keinen Begriff von der Schönheit machen. Ich
behaupte nicht, dass sie den Gedanken, dass die
Schönheit existiert oder existierte, nicht hegen, aber
sie können sich keine genaue Tdee von ihr machen.

Diese Epochen stehen unter dem Bann der Mode,
unter der Willkür eines Monarchen, wie es am
Anfang des letzten Jahrhunderts der Fall war,
welches eine Rückkehr zur römischen Ueberlieferung
gebot und den Stil des ersten Kaiserreichs ersann.

Mit dem Wiedererwachen des Begriffs der
Zweckmässigkeit und der Entstehung des Bequem-
lichkeitsbedürfnisses kehren wir wieder auf ein
sicheres und gesundes Gebiet zurück, und gerade
dies Gebiet ist es, auf das sich auf dem Kontinent
der Architekt Serrurier-Bovy wagte. Ein sehr
mächtiger Faktor gesellt sich noch zu den beiden
ersteren: Die Sorge um die Hygiene.

Die Menschheit betritt jetzt einen bis dahin
vollkommen unbekannten Weg. Evolutionen her-
vorbringende Faktoren, die früher wenigstens nie
im Einverständnis gestanden haben, wirken auf
sie; sie sind es, die den Stil stempeln werden, der
aus Eigentümlichkeiten entsteht, die dieses Keimen
und diese Verwandschaft kundthun. Diese drei
Faktoren sind unumscliränkt auf dem Kontinent
thätig, wo eine Zeit der Barbarei, die fast 100 Jahre
dauerte, von 1790—1890, die Bande zerrissen und
die Ueberlieferungen vernichtet hatte, wie es z. B.
in England nicht geschehen war.

Die Wirkungen der französischen Revolution
sind in England so wenig gespürt worden, dass
sich die Umwälzung des Stils dort ohne Anstoss
und ohne Unterbrechung während des letzten Jahr-
hunderts vollzogen hat. Die Ueberlieferung lastet
mit ganzer Schwere auf ihr; kein Gewitter hat den
Himmel von den Wolken befreit, die sich dort seit
unendlicher Zeit anhäufen. Dieselben Faktoren
wirken sicherlich ebenso oder noch mehr bei uns,
aber die Atmosphäre ist ihnen nicht günstig; auf
dem Kontinent, wohin wir sie versetzt haben, ist
der Boden noch jungfräulich rein, aber er hat diese
Fleckenlosigkeit mit Blut entgolten — der Himmel
ist klar, das Gewitter hat sich in einem schweren
roten Regen Luft gemacht.

Wir können kurz behaupten, dass der Stil, der
sich auf dem Kontinent seit 1890 vorbereitet, seine
Basis und seine karakteristischen Eigentümlich-
keiten den drei Faktoren entlehnt, deren Entstehen
wir oben konstatiert haben: Der Zweckmässigkeit,
der Bequemlichkeit und der Hygiene. Weil wir nun
erkannt haben, dass der Stil aus einer so gesunden
und lebensvollen Quelle schöpft, wird niemand uns
das Vertrauen auf die Zukunft und die Ueber-
zeugung rauben, dass sich etwas vor unseren Augen

vollzieht, das in Zukunft von Betracht sein wird.

* *

Geschichtlich vollzieht sich nichts in diesem
Sinne (denn ich kann ausser Acht lassen, was sich
 
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