stellern und Rezipienten.67 Gemeinsam ist ihnen das Gefallen, sich in Motiven der Ver-
gangenheit wiederzufinden. Es ist die spielerische Suche nach der Verlebendigung und Ver-
sinnlichung vorangegangener Epochen, der Wunsch nach Augenzeugenschaft unter Aufhe-
bung des historischen Abstandes, und damit gleichzeitig Ausdruck eines neuen geschicht-
lichen Bewußtseins. Lebende Bilder als körperliche Aneignungen von Kunstwerken, die zum
einen Historie vermittelten, zum anderen teilweise selbst schon Geschichte sind, passen in
diesen spielerischen Umgang mit der Geschichte hervorragend hinein. Da sie nicht nur die
Möglichkeit boten, eine neue Rolle anzunehmen, sondern auch ein geschätztes Kunstwerk
aus der leblosen Ewigkeit in die Wirklichkeit des Lebens zu übertragen, galten sie geistrei-
cher als manch' anderes Vergnügen.68
Immer wieder liest man im Zusammenhang mit den lebenden Bildern von »Spiel«,
»Divertissement«, »Zeitvertreib«, »Unterhaltung« oder »Amüsement«:
»Les tableaux vivants amusaient extremement la societe. L'hiver suivant ils servirent ä varier les
divertissements du soir dans les salons de Saint-P etersbourg.« (Kat.Pet. 1795.Q.1) oder »das Gan-
ze ist dem gebildeten Publikum als geisterregende Unterhaltung zu empfehlen.« (Kat.Ber. 1812/1.Q.4)
Es stellt sich die Frage, wie ernst sie genommen wurden, ob sie einen gewissen »Kulturauf-
trag« erfüllten oder gar einen künstlerischen Anspruch erhoben. Der heutige, bisweilen nega-
tive Begriff der reinen Unterhaltung muß dabei überdacht werden. Es läßt sich für die dama-
lige Zeit keine scharfe Unterscheidung zwischen eigenständiger Kunst und unterhaltender,
funktioneller »Subkunst« machen. »Früher waren die meisten Künste sowohl Medium wie
Kunst, trugen sie einerseits Informationen in sich und konnten sie andererseits aus der eige-
nen Ästhetik wirken. Heute sind diese Funktionen getrennt, weil Information und Kom-
munikation nur noch als technische Möglichkeiten zugelassen werden.«^9 Neben dem direkt
moralisierenden Einsatz der lebenden Bilder - etwa bei der Gräfin de Genlis oder während
der Revolution - hatten sie die wichtige Aufgabe, das Publikum im »guten Geschmack« auszu-
bilden, wie bereits Baron Grimm schilderte:
, »Je crois cet amusement tres propre ä former le goüt, surtout de la jeunesse, et ä lui apprendre ä
saisir les nuances les plus delicates de toutes sortes de caracteres et de passions.« (Kat.F. 1765.Q.1)
Auch andere betonten den Bildungswert der lebenden Bilder. Anhand bekannter Kunst-
inventionen konnte man seinen Sinn für das Schöne ausbilden und sein Geschmacksurteil
festigen:
»Und dieser Nutzen ist ein zwiefacher. Erstlich wird der Sinn für das Schöne, für die Plastik da-
durch belebt, und dies sollte vornämlich die Herren Maler interessiren. Sodann aber prägt sich
dem Liebhaber auch das Schöne, was die Meister der Kunst geliefert, besser ein;« (Kat.Ber. 181 l.Q. 1)
oder »Durch eine wohlberechnete Aufführung dieses Stücks kann sich jede Direction ein stilles
Verdienst um die Bildung des Geschmackurtheils erwerben.« (Kat.Dre.l816.Q.5)
67 Zur ästhetischen Distanz, vgl. Kap.4.1.3.
68 Zur besonderen Situation des Umgangs mit den verschiedenen Realitäts- und Illusionsebenen bei
lebenden Bildern, vgl. Kap.5.1.3.
69 Siehe Belting 1995, S.167. Viele Künstler jener Zeit waren reine »Unterhaltungskünstler«, deren
Hervorbringungen heute als höchst anspruchsvolle Kunst eingestuft werden. Unterhaltung an sich
sagt nichts über die Qualität eines Werkes aus. Mozarts Divertimenti waren nicht nur unterhaltende,
sondern Unterhaltungsmusik, und große Dichter der Weltliteratur waren zu ihren Lebzeiten
»Gebrauchspoeten«.
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gangenheit wiederzufinden. Es ist die spielerische Suche nach der Verlebendigung und Ver-
sinnlichung vorangegangener Epochen, der Wunsch nach Augenzeugenschaft unter Aufhe-
bung des historischen Abstandes, und damit gleichzeitig Ausdruck eines neuen geschicht-
lichen Bewußtseins. Lebende Bilder als körperliche Aneignungen von Kunstwerken, die zum
einen Historie vermittelten, zum anderen teilweise selbst schon Geschichte sind, passen in
diesen spielerischen Umgang mit der Geschichte hervorragend hinein. Da sie nicht nur die
Möglichkeit boten, eine neue Rolle anzunehmen, sondern auch ein geschätztes Kunstwerk
aus der leblosen Ewigkeit in die Wirklichkeit des Lebens zu übertragen, galten sie geistrei-
cher als manch' anderes Vergnügen.68
Immer wieder liest man im Zusammenhang mit den lebenden Bildern von »Spiel«,
»Divertissement«, »Zeitvertreib«, »Unterhaltung« oder »Amüsement«:
»Les tableaux vivants amusaient extremement la societe. L'hiver suivant ils servirent ä varier les
divertissements du soir dans les salons de Saint-P etersbourg.« (Kat.Pet. 1795.Q.1) oder »das Gan-
ze ist dem gebildeten Publikum als geisterregende Unterhaltung zu empfehlen.« (Kat.Ber. 1812/1.Q.4)
Es stellt sich die Frage, wie ernst sie genommen wurden, ob sie einen gewissen »Kulturauf-
trag« erfüllten oder gar einen künstlerischen Anspruch erhoben. Der heutige, bisweilen nega-
tive Begriff der reinen Unterhaltung muß dabei überdacht werden. Es läßt sich für die dama-
lige Zeit keine scharfe Unterscheidung zwischen eigenständiger Kunst und unterhaltender,
funktioneller »Subkunst« machen. »Früher waren die meisten Künste sowohl Medium wie
Kunst, trugen sie einerseits Informationen in sich und konnten sie andererseits aus der eige-
nen Ästhetik wirken. Heute sind diese Funktionen getrennt, weil Information und Kom-
munikation nur noch als technische Möglichkeiten zugelassen werden.«^9 Neben dem direkt
moralisierenden Einsatz der lebenden Bilder - etwa bei der Gräfin de Genlis oder während
der Revolution - hatten sie die wichtige Aufgabe, das Publikum im »guten Geschmack« auszu-
bilden, wie bereits Baron Grimm schilderte:
, »Je crois cet amusement tres propre ä former le goüt, surtout de la jeunesse, et ä lui apprendre ä
saisir les nuances les plus delicates de toutes sortes de caracteres et de passions.« (Kat.F. 1765.Q.1)
Auch andere betonten den Bildungswert der lebenden Bilder. Anhand bekannter Kunst-
inventionen konnte man seinen Sinn für das Schöne ausbilden und sein Geschmacksurteil
festigen:
»Und dieser Nutzen ist ein zwiefacher. Erstlich wird der Sinn für das Schöne, für die Plastik da-
durch belebt, und dies sollte vornämlich die Herren Maler interessiren. Sodann aber prägt sich
dem Liebhaber auch das Schöne, was die Meister der Kunst geliefert, besser ein;« (Kat.Ber. 181 l.Q. 1)
oder »Durch eine wohlberechnete Aufführung dieses Stücks kann sich jede Direction ein stilles
Verdienst um die Bildung des Geschmackurtheils erwerben.« (Kat.Dre.l816.Q.5)
67 Zur ästhetischen Distanz, vgl. Kap.4.1.3.
68 Zur besonderen Situation des Umgangs mit den verschiedenen Realitäts- und Illusionsebenen bei
lebenden Bildern, vgl. Kap.5.1.3.
69 Siehe Belting 1995, S.167. Viele Künstler jener Zeit waren reine »Unterhaltungskünstler«, deren
Hervorbringungen heute als höchst anspruchsvolle Kunst eingestuft werden. Unterhaltung an sich
sagt nichts über die Qualität eines Werkes aus. Mozarts Divertimenti waren nicht nur unterhaltende,
sondern Unterhaltungsmusik, und große Dichter der Weltliteratur waren zu ihren Lebzeiten
»Gebrauchspoeten«.
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