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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0172
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Zuschauer auf einen bestimmten Raum beschränken. Auch dann aber hat man wohl zu beachten,
daß bei den verschiedenen Stellungen, welche mehrere Zuschauer einnehmen, nichts Wesentliches
vom Bilde verloren geht. Dies macht bald mehr bald weniger Schwierigkeit, je nach dem räumli-
chen Verhältniß, welches die Personen auf dem Bilde selbst zu einander haben. Eine große Nähe
des Beschauens ist für ein lebendes Bild immer gefährlich und doch muß man die Gesichtszüge und
Mienen der Personen unterscheiden können, soll überhaupt noch von einem ästhetischen Genuß
die Rede sein. Der Gegenstand als solcher ist bei einem lebenden Bilde nicht ein Produkt der
Kunst; erst das Anschauen von einer bestimmten Entfernung aus bringt diese Verwandlung in ein
Bild hervor.«1^

Ein nicht unerhebliches Charakteristikum der lebenden Bilder, über das alle Quellen schwei-
gen, ist die Veränderung des Formats in Bezug auf das Vorbild. Neben einigen großformati-
gen Gemälden, beispielsweise die des Malers Jacques-Louis David, wurden zahlreiche klein-
formatige Gemälde und besonders Gemäldereproduktionen um ein vielfaches im lebenden
Bild vergrößert. Viele Werke - beispielsweise der italienischen Hochrenaissance - waren den
meisten vermutlich nicht aus eigener Anschauung bekannt, sondern nur aus Graphiken, die
eine vollkommen andere Wirkung auf die Bildauffassung hatten als eine Vergrößerung auf
Lebensgröße.146 Noch extremer ist der Effekt bei der »Hoch-Projizierung« eines intimen
Genrebildes. Wo sich ursprünglich der Betrachter in die Bildwelt von kleinem Format mit
seiner Vorstellungskraft einfühlen mußte, wurde sie ihm jetzt in Lebensgröße geboten. Durch
die reale Größe der lebenden Personen rückten Bildwelt und Realität ein Stück weit zusam-
men. Die Anekdote der lebensgroß gemalten Magd von Rembrandt, die er in einem Fenster-
rahmen den vorübergehenden Passanten präsentierte und sie damit täuschte, macht deutlich,
wie wirkungsvoll die Lebensgröße auf den Betrachter im Bezug auf seine eigene Zeit- und
Raumdimension war: »Die Vergegenwärtigungskraft der Lebensgröße wird gedeutet als Auf-
lösung der Bildeinheit zugunsten einer Einordnung der Figuren in die unbegrenzte Wirklich-
keit, zugunsten einer sich nicht über die Realität erhebenden unkünstlerischen Sinnestäu-
schung.«1^1 Dennoch waren Fragen des Formats und des Maßstabs in Bezug auf die lebenden
Bilder offensichtlich kein Thema.

Aus technischer Sicht mußten die Vorlagen also einige Kriterien erfüllen: es mußten
Figurengruppen-beziehungsweise Einzelfiguren sein, die nach Möglichkeit hierarchisch an-
nähernd gleichberechtigt aufgebaut waren. Bildparallel angelegte Kompositionen waren gute
Vorbilder. Zu große perspektivische Verkürzungen konnten nicht übernommen werden. Es
mußten theaterähnliche Szenen sein, die auf den oft kleinen Bühnen in einem geschlossenen
Raum leicht anzuordnen waren. Der Schauplatz sollte nicht von zu vielen versatzstückartigen
Requisiten oder zu aufwendiger Kulissenmalerei abhängig sein, die die malerischen Qualitä-
ten der Vorlage vermitteln mußte. Die Figuren durften keine zu großen Aktivitäten zeigen,
denn die Stellungen mußten so bequem sein, daß sie für den Darsteller etwa eine Minute lang
auszuhalten waren. Eine zu große Personenanzahl konnte nicht berücksichtigt werden, auch
waren Vorbilder mit schwebenden Gestalten schwer ausführbar. In Frage kamen somit in der
Hauptsache übersichtlich aufgebaute, nicht allzu bewegte Historien- und Genregemälde, de-
ren Landschaft oder Ambiente unwichtig blieb und deren Figuren die maßgeblichen Aus-
drucksträger waren.

145 Siehe Schaller 1861, S.292-293.

146 Zur in erster Linie an kleinen Graphiken und Bildvorlagen geschulten Vorstellungskraft, vgl.
Puttfarken 1971, S. 174, der sich in seiner Dissertation zu Maßstabsfragen bei Bildern befasst. Burck-
hardt hatte sich bereits 1886 mit dieser Frage in einem Vortrag beschäftigt, vgl. Burckhardt (1886)
1933. S.361-371.

147 Siehe Puttfarken 1971, S.116.

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