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Die Erzählstruktur der Friedrich-Bilder

i. Der Realismuscharakter von Menzels Friedrich-Bildern

Die Diskussion des Entwurfsprozesses der Friedrich-Bilder führt zwangsläufig zur Frage
nach dem Wirklichkeitsverhältnis von Menzels Kunst. Die Verkürzung dieses Prozesses
war als Ausdruck sowohl einer Verlebendigung als auch einer tiefgehenden Verunsiche-
rung des künstlerischen Zugriffs auf die Wirklichkeit beschrieben worden. Letztere trat
gerade dort ein, wo der Maler glaubte, sich nicht mehr auf das »Haltenetz« der vorgefaß-
ten Idee berufen zu können, die ihre Manifestation in der abstrakten und gewissermaßen
immateriellen Kompositionszeichnung fand. Diese nämlich war in der idealistischen
Tradition der Garant für die Autonomie des Kunstentwurfes gegenüber den natürlichen
Vorgaben, die als sekundäre Erfüllungsgehilfen des Gedankens galten.

Mit seinem Verzicht auf die vor alle Wirklichkeitsbeobachtung geschaltete Schöpfung
des bildnerischen Gedankens wurde Menzel zum Protagonisten einer ästhetischen Gene-
rallinie, die als Realismus die Kunstformen des fortschreitenden 19. Jahrhunderts über
weite Strecken determinierte. In einer grundlegenden Begriffsbestimmung hat der Litera-
turhistoriker Peter Demetz die Eigenheiten des modernen Realismusbegriffs gekenn-
zeichnet und damit Kriterien an die Hand gegeben, die auch für eine präzisere, über die
gewöhnlich eher simplistische Kennzeichnung des Menzelschen Realismus weit hinaus-
gehende Charakterisierung von Nutzen sind. Demetz nennt vier Kategorien, die er für
Wesensbestandteile realistischer Kunst hält. Erstens fröne der Realist dem »einschließen-
den Erzählen«, das heißt der Darstellung einer Welt in ihrer prinzipiell unendlich diffe-
renzierten Phänomenalität. Zweitens ersetze er das »Heldische« durch das »Typische«,
also die Idee des herausgehobenen durch die Erscheinungsformen des durchschnittlichen
Menschen. Drittens gehe es ihm darum, den Menschen als determiniertes Produkt »sach-
licher Energien« zu schildern, also als Teil eines situationalen, gesellschaftlichen und
historischen Gefüges. Und viertens relativiere sich der realistische Erzähler dadurch, daß
er die Welt als eine eigenständige, jenseits und vor aller künstlerischen Verarbeitung
immer schon existente begreife.1

Die genannten literarischen Kategorien lassen sich durchgängig auf die realistische
Malerei Menzels übertragen, und zwar gerade auch dort, wo er sich dem historischen
Stoff widmete. Dem einschließenden Erzählen und der Darstellung der Welt als eigen-
ständiger Wesenheit war der Maler schon aus den bisher genannten Gründen verpflich-
tet. So wie die realistischen Schriftsteller von Balzac bis Zola in der offenen Anlage der
Romanserie ein immer breiteres und vielschichtigeres Bild des gewählten Gegenstandsbe-
reiches zeichneten, so wie sie das Panorama der historischen oder gesellschaftlichen Kon-
stellation durch geduldiges Aneinanderfügen einzelner »Mosaiksteinchen« ausfüllten, so
durchmaß Menzel den Kosmos des friderizianischen Zeitalters, indem er es durch detail-
liertes Studium aller seiner Hinterlassenschaften in Graphik und Ölbild materiell wieder
 
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