F. ADAMA VAN SCHELTEMA. Die Kunst unserer Vorzeit.
Bibliographisches Institut AG., Leipzig 1936.
Das Buch hat wie alles, was Sch. bisher veröffentlicht hat, ein überra-
gendes Niveau. In der intimen Kenntnis der erdrückenden Massen prä-
historischer Funde und der an sie anschließenden beängstigend weiten und
zersplitterten Fachliteratur mag ihm mancher tüchtige Prähistoriker nicht
nachstehen. Was ihn abhebt, ist der philosophische produktive Hauch, der
alle seine Untersuchungen intensiv durchdringt. Halb scherzhaft läßt sich
sagen, die Vorzeitkunde steckte bis vor kurzem im Zustand ihrer Urzeit,
nämlich (nach Schis Charakterisierung der Urzeit) im Zustand der „Natur-
unmittelbarkeit", der „tastenden, greifenden und sammelnden Bezugnahme
auf die natürliche Umwelt", die sich — beim Urmenschen! — „sowohl in
der konsumtiven Wirtschaft und in der destruktiven Technik, als auch in
der unmittelbaren Wiedergabe der aufgespeicherten Gedächtnisbilder aus-
prägt" (S. 24). Mit Sch.'s 1923 erschienenem Buch: „Die altnordische Kunst"
trat die Vorzeitkunde, ich will nicht sagen in ihre jungsteinzeitliche Phase,
aber in jene Stufe, die den in abstrakten Begriffen denkenden Erwachsenen
von der kindhaften Stufe des Eidetikers trennt. Sch. ist sich seiner eigenen
wissenschaftsgeschichtlichen Stellung und Mission bewußt. Und dies nicht
bloß gegenüber der Prähistorie, auch gegenüber der Kunstwissenschaft. Sein
erstes Buch (von 1923) hob mit dem hoffnungsvollen Satz an: „Dieses Werk
ist ein Versuch, das unerschöpflich reiche Gebiet der vorgeschichtlichen
Kunst für die wissenschaftliche Kunstforschung zu erschließen und eine
Annäherung zwischen Kunstgeschichte und Prähistorie anzubahnen." Er
bezog sich dabei auf die „begriffliche Kunstforschung", der er nun zunächst
die Prähistorie unterwarf, um die beiden Gebiete durch die übergeordnete
gemeinsame Welt der Begriffe zu verbinden. Doch das neue Buch (von 1936)
beginnt mit der Klage und Anklage, daß die offizielle Kunstwissenschaft
noch immer die Vorzeit „vergessen" habe. Als Beweis dafür dient die Tat-
sache, daß der ganze Abschnitt vorzeitlicher Kunst in Burger-Brinckmanns
Handbuch der Kunstwissenschaft fehlt. Allein dort fehlt ja überhaupt so
manches (was gewiß menschlich ist) und: als offizielles Unternehmen kann
es kaum gelten. Stillschweigend ist sicher jeder aufgeschlossene Kunstwis-
senschaftler davon überzeugt, daß die Kunst der Vorzeit die Kunstge-
schichte zu eröffnen hat, er kann nur in der Eile nicht die ausgedehnten
Einzelstudien nachholen. Wenn aber Sch. enttäuscht ist, daß die träge Mit-
welt der Kunsthistoriker so lange braucht, um nachzukommen, könnte ande-
rerseits diese Enttäuschung vielleicht auch auf die Sprödheit der Prähisto-
riker gegenüber jeder begrifflichen Forschung ausgedehnt sein. Zwar be-
gegnet diese auch bei den Kunstwissenschaftlern einem großen Mißtrauen,
aber auf diese höhere wissenschaftliche Stufe, „unsere moderne, im nicht-
deutschen Ausland selten verstandene Kunstforschung" (S. 7), kann Sch.
doch immerhin als auf eine ihm geistesverwandte und verbündete Phalanx
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Bibliographisches Institut AG., Leipzig 1936.
Das Buch hat wie alles, was Sch. bisher veröffentlicht hat, ein überra-
gendes Niveau. In der intimen Kenntnis der erdrückenden Massen prä-
historischer Funde und der an sie anschließenden beängstigend weiten und
zersplitterten Fachliteratur mag ihm mancher tüchtige Prähistoriker nicht
nachstehen. Was ihn abhebt, ist der philosophische produktive Hauch, der
alle seine Untersuchungen intensiv durchdringt. Halb scherzhaft läßt sich
sagen, die Vorzeitkunde steckte bis vor kurzem im Zustand ihrer Urzeit,
nämlich (nach Schis Charakterisierung der Urzeit) im Zustand der „Natur-
unmittelbarkeit", der „tastenden, greifenden und sammelnden Bezugnahme
auf die natürliche Umwelt", die sich — beim Urmenschen! — „sowohl in
der konsumtiven Wirtschaft und in der destruktiven Technik, als auch in
der unmittelbaren Wiedergabe der aufgespeicherten Gedächtnisbilder aus-
prägt" (S. 24). Mit Sch.'s 1923 erschienenem Buch: „Die altnordische Kunst"
trat die Vorzeitkunde, ich will nicht sagen in ihre jungsteinzeitliche Phase,
aber in jene Stufe, die den in abstrakten Begriffen denkenden Erwachsenen
von der kindhaften Stufe des Eidetikers trennt. Sch. ist sich seiner eigenen
wissenschaftsgeschichtlichen Stellung und Mission bewußt. Und dies nicht
bloß gegenüber der Prähistorie, auch gegenüber der Kunstwissenschaft. Sein
erstes Buch (von 1923) hob mit dem hoffnungsvollen Satz an: „Dieses Werk
ist ein Versuch, das unerschöpflich reiche Gebiet der vorgeschichtlichen
Kunst für die wissenschaftliche Kunstforschung zu erschließen und eine
Annäherung zwischen Kunstgeschichte und Prähistorie anzubahnen." Er
bezog sich dabei auf die „begriffliche Kunstforschung", der er nun zunächst
die Prähistorie unterwarf, um die beiden Gebiete durch die übergeordnete
gemeinsame Welt der Begriffe zu verbinden. Doch das neue Buch (von 1936)
beginnt mit der Klage und Anklage, daß die offizielle Kunstwissenschaft
noch immer die Vorzeit „vergessen" habe. Als Beweis dafür dient die Tat-
sache, daß der ganze Abschnitt vorzeitlicher Kunst in Burger-Brinckmanns
Handbuch der Kunstwissenschaft fehlt. Allein dort fehlt ja überhaupt so
manches (was gewiß menschlich ist) und: als offizielles Unternehmen kann
es kaum gelten. Stillschweigend ist sicher jeder aufgeschlossene Kunstwis-
senschaftler davon überzeugt, daß die Kunst der Vorzeit die Kunstge-
schichte zu eröffnen hat, er kann nur in der Eile nicht die ausgedehnten
Einzelstudien nachholen. Wenn aber Sch. enttäuscht ist, daß die träge Mit-
welt der Kunsthistoriker so lange braucht, um nachzukommen, könnte ande-
rerseits diese Enttäuschung vielleicht auch auf die Sprödheit der Prähisto-
riker gegenüber jeder begrifflichen Forschung ausgedehnt sein. Zwar be-
gegnet diese auch bei den Kunstwissenschaftlern einem großen Mißtrauen,
aber auf diese höhere wissenschaftliche Stufe, „unsere moderne, im nicht-
deutschen Ausland selten verstandene Kunstforschung" (S. 7), kann Sch.
doch immerhin als auf eine ihm geistesverwandte und verbündete Phalanx
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