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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft III (März 1909)
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Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0050

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Man wird einwenden, dass sich ja jeder von selbst denjenigen Künstler aussuchen
wird, dessen Kunst seiner eigenen persönlichen Auffassung entspricht. Im allgemeinen
geschieht das auch. Allein damit und mit einer Künstlerkunst überhaupt kann das
weite Gebiet unserer Wohnungsausstattung noch nicht als erledigt betrachtet werden.
Einmal kann schon nicht davon die Rede sein, dass eine hochgradig indi-
viduell gefärbte Kunst in allen Fällen die richtige Umgebung für uns ist. Wenig
Menschen werden ihr ganzes Leben in derselben Feiertagsstimmung verbringen
wollen, die diese Räume anschlagen. Man kann nicht ewig Feste feiern. Die
meisten müssen oder wollen arbeiten, und das kann man sozusagen nur im Werk-
tagskittel. „Eine Umgebung von bequemen, geschmackvollen Möbeln,“ sagte Goethe
zu Eckermann, „hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen
passiven Zustand. Ausgenommen, dass man von Jugend auf daran gewöhnt sei,
sind prächtige Zimmer und elegantes Hausgerät für Leute, die keine Gedanken
haben und haben mögen.“ Anders ist es für den Festraum. Hier verlangen wir
mit Recht Stimmung, und jeder Antrieb dazu durch eine künstlerische Umgebung
kann nur mit Dank
hingenommen wer-
den. Hier mögen
wir uns auch wohl
gern in die beson-
dere Nuancierung
der Stimmung lii-
neinführen lassen,
die die ausgespro-
chene Individualität
des modernen
Künstlers bietet.
Hier ist die Künst-
lerkunst des heu-
tigen deutschen
Kunstgewerbes am
Platze. Im gewöhn-
lichen Wohnzimmer
aber oder gar im
Arb ei tszimmer kann
nur eine gewisse ge-
räuschlose Beschei-
denheit das Gepräge
sein, das der Raum
zu tragen bat. Es ist eigentlich unerklärlich, dass jemand, der seine eigenen Gedanken
spinnen will, sich fortwährend von dem Liniengewirr angrinsen, von dem ,,sprechenden
Ausdruck“ anreden lassen kann, den viele der künstlerischen Möbel und Wände, mit
denen uns bisher unsere modernen Künstler versorgten, als ihre auffallendste Eigentüm-
lichkeit tragen. Man muss da erst seine Empfindungsnerven töten, gewissermassen
seine tektonischen Ohren mit Watte verstopfen, ehe man zur Sammlung kommen kann.
Sodann aber, und das ist der wichtigere Punkt, ist die grosse künstlerische
Zeitfrage, die Ueberführung unserer Umgebung zu gesunderen Zuständen, doch
nicht damit gelöst, dass jeder sich bis in die kleinste Ecke seines Hauses von
Wohnungskünstlern abhängig macht. Hat man eine breitere Wirkung im Sinne,
so muss die Bewegung so volkstümlich werden, dass jeder, wenigstens jeder Ge-
bildete, in der Lage ist, nicht nur selbständig mitzufühlen und das Wesen der
neuen Ideen nachzuempfinden, sondern sogar sich bis zu einem gewissen Grade
selbständig in den neuen Gedanken zu betätigen.
Fragt man, wie weit dies heute in Deutschland der Fall sei, so wird man
zu einem sehr entmutigenden Ergebnis kommen. Hier ist beinahe noch nichts
geschehen. Eine bessere Geschmacksbildung des Publikums stellt noch in den
 
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