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VIERLÄNDER KUNST
ra
Stuhl aus den Vierlanden. Aufgenommen von H. Haase, Hamburg;.
würde, auf welcher diese Sonderstile gegen einander
abgegrenzt wären, würde man die merkwürdige Er-
scheinung beobachten können, dass dieselbe ausser-
ordentliche Ähnlichkeit mit einer Bevölkerungskarte
von Deutschland hat, auf der aufs Genaueste und
Kleinlichste die verschiedenen Volksstämme und Völker
eingetragen sind, ja, dass sie sich fast mit derselben
deckt. Slavische und germanische Stämme, reine und
gemischte germanische Stämme, Friesen, Sachsen,
Franken, Thüringer, Bajuvaren, Alemannen, Chatten
u. s. w., alteingesessene und Kolonistenbevölkerungen
heben sich in der Bauernkunst deutlich voneinander
ab. Andere Unterschiede, wie die Hauptbeschäftigungs-
art, z. B. ob Fischerei, ob Schiffahrt, ob Ackerbau,
Gartenbau u. s. w., wie ferner die Konfession, ob
katholisch, ob protestantisch, wie endlich die grössere
oder geringere Nähe einer grösseren Stadt u. a. m.
haben noch ferner mitgewirkt, um innerhalb der
grösseren, umfassenderen Stile kleine und kleinste
Sonderstile hervorzurufen, so dass das Bild des
Ganzen ein äusserst buntscheckiges wird.
Wie gesagt, man fängt heute erst an, der Bauern-
kunst Beachtung zu schenken, teils infolge des Auf-
blühens der neuen Wissenschaft der Volkskunde, teils
aber auch, weil die modernen Bestrebungen im Kunst-
gewerbe in der Eigenart, welche sich unsere deutschen
Bauernstile gegenüber städtischen Einflüssen in hohem
Massegewahrt haben, ein Vorbild in ihrem Kampfe gegen
die bis vor kurzem übermächtig herrschenden Stilarten
vergangener Zeiten und Völker sehen und auch in
der That sehen dürfen. Denn in mustergültiger
Weise sehen wir die Bauernkunst souverän mit irgend
welchen eindringenden Formen und Gedanken um-
springen, sie sich mundgerecht machen, gerade so,
wie jede gesunde Kunst der Vorzeit das gethan hat
- ich erinnere nur an das Verhalten der deutschen
Renaissance gegenüber der italienischen. - - Es wäre
zu wünschen, dass die tapfere Verteidigung der be-
sonderen Stammeseigenart, wie wir sie von unserer
Bauernkunst geübt sehen, unserem deutschen Kunst-
gewerbe auch ein Vorbild im Kampfe unserer deut-
schen Eigenart mit modern ausländischen Formen wäre!
Unter den deutschen Bauernstilen sind ein paar,
die, durch allerlei Umstände begünstigt, in höherem
Masse die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben.
Sei's, dass sie unter ihren Schwestern hervorragen,
sei's, dass sie durch ihre Lage nahe einem Verkehrs-
zentrum bekannt geworden sind, sei's, dass sie einem
von Sommerfrischlern oder Künstlern vielbesuchten
Ländchen eigen sind u. s. f.
Das ist z. B. der Fall mit dem tiroler Stil, mit
dem Schwälmer, das ist auch der Fall mit dem Vier-
länder Stil.
Der Vierländer Stil ist ein ganz besonders dras-
tisches Beispiel eines ausserordentlich unabhängigen,
mit den Grenzen eines bestimmten Volksstammes sich
deckenden Stiles. Nur geringe Spuren seines Ein-
flusses finden wir in den Nachbarländchen, in der
Winsener Marsch und den Landschaften Bill- und
Ochsenwärder; im Norden, in Stormarn finden wir
absolut keine. In der gesamten deutschen Bauern-
kunst anderer Landschaften finden wir niemals etwas,
das ihr auch nur im geringsten ähnelt.
Die Vierlande liegen oberhalb Hamburgs am
Nordufer der Elbe. Sie sind im Grunde ehemalige
Eibinseln, die durch Kolonisten, und zwar in der
Hauptsache holländischen, seit dem 12. Jahrhundert
eingedeicht worden sind. Zwei ehemalige Eibarme,
die Dove- und die Gose-Elbe durchströmen, mit
dem Ausgang des 15. Jahrhunderts an ihrem oberen
Ende durch Deiche geschlossen, das Ländchen,
das im Perleberger Frieden 1420 von Lauen-
burg an Hamburg und Lübeck abgetreten, nach
447jähriger beiderstädtischer< Verwaltung 1867
Hamburger Gebiet geworden ist.
Die Bewohner sind ein Mischvolk aus allerdings
nahe verwandten Elementen, Holländern und Nieder-
sachsen beider Eibufer, in dem aber das hollän-
dische Blut stark vorwiegt. Klar beweisen das Vor-
namen, wie die Mädchennamen Gesche, Wobke,
Becke, Ancke, Elsche, Mette, Barber, Tiecke, Jan-
thrin, sowie die 'Männernamen Ties, Harm, Hencke,
Theis u. a. m. Das beweisen ferner die alte volks-
tümliche Tracht, der Schmuck u. a. m. Ja, man
möchte sagen, die Landschaft beweise das desgleichen.
Da giebt's z. B. eine Rembrandt'sche Radierung, eine
VIERLÄNDER KUNST
ra
Stuhl aus den Vierlanden. Aufgenommen von H. Haase, Hamburg;.
würde, auf welcher diese Sonderstile gegen einander
abgegrenzt wären, würde man die merkwürdige Er-
scheinung beobachten können, dass dieselbe ausser-
ordentliche Ähnlichkeit mit einer Bevölkerungskarte
von Deutschland hat, auf der aufs Genaueste und
Kleinlichste die verschiedenen Volksstämme und Völker
eingetragen sind, ja, dass sie sich fast mit derselben
deckt. Slavische und germanische Stämme, reine und
gemischte germanische Stämme, Friesen, Sachsen,
Franken, Thüringer, Bajuvaren, Alemannen, Chatten
u. s. w., alteingesessene und Kolonistenbevölkerungen
heben sich in der Bauernkunst deutlich voneinander
ab. Andere Unterschiede, wie die Hauptbeschäftigungs-
art, z. B. ob Fischerei, ob Schiffahrt, ob Ackerbau,
Gartenbau u. s. w., wie ferner die Konfession, ob
katholisch, ob protestantisch, wie endlich die grössere
oder geringere Nähe einer grösseren Stadt u. a. m.
haben noch ferner mitgewirkt, um innerhalb der
grösseren, umfassenderen Stile kleine und kleinste
Sonderstile hervorzurufen, so dass das Bild des
Ganzen ein äusserst buntscheckiges wird.
Wie gesagt, man fängt heute erst an, der Bauern-
kunst Beachtung zu schenken, teils infolge des Auf-
blühens der neuen Wissenschaft der Volkskunde, teils
aber auch, weil die modernen Bestrebungen im Kunst-
gewerbe in der Eigenart, welche sich unsere deutschen
Bauernstile gegenüber städtischen Einflüssen in hohem
Massegewahrt haben, ein Vorbild in ihrem Kampfe gegen
die bis vor kurzem übermächtig herrschenden Stilarten
vergangener Zeiten und Völker sehen und auch in
der That sehen dürfen. Denn in mustergültiger
Weise sehen wir die Bauernkunst souverän mit irgend
welchen eindringenden Formen und Gedanken um-
springen, sie sich mundgerecht machen, gerade so,
wie jede gesunde Kunst der Vorzeit das gethan hat
- ich erinnere nur an das Verhalten der deutschen
Renaissance gegenüber der italienischen. - - Es wäre
zu wünschen, dass die tapfere Verteidigung der be-
sonderen Stammeseigenart, wie wir sie von unserer
Bauernkunst geübt sehen, unserem deutschen Kunst-
gewerbe auch ein Vorbild im Kampfe unserer deut-
schen Eigenart mit modern ausländischen Formen wäre!
Unter den deutschen Bauernstilen sind ein paar,
die, durch allerlei Umstände begünstigt, in höherem
Masse die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben.
Sei's, dass sie unter ihren Schwestern hervorragen,
sei's, dass sie durch ihre Lage nahe einem Verkehrs-
zentrum bekannt geworden sind, sei's, dass sie einem
von Sommerfrischlern oder Künstlern vielbesuchten
Ländchen eigen sind u. s. f.
Das ist z. B. der Fall mit dem tiroler Stil, mit
dem Schwälmer, das ist auch der Fall mit dem Vier-
länder Stil.
Der Vierländer Stil ist ein ganz besonders dras-
tisches Beispiel eines ausserordentlich unabhängigen,
mit den Grenzen eines bestimmten Volksstammes sich
deckenden Stiles. Nur geringe Spuren seines Ein-
flusses finden wir in den Nachbarländchen, in der
Winsener Marsch und den Landschaften Bill- und
Ochsenwärder; im Norden, in Stormarn finden wir
absolut keine. In der gesamten deutschen Bauern-
kunst anderer Landschaften finden wir niemals etwas,
das ihr auch nur im geringsten ähnelt.
Die Vierlande liegen oberhalb Hamburgs am
Nordufer der Elbe. Sie sind im Grunde ehemalige
Eibinseln, die durch Kolonisten, und zwar in der
Hauptsache holländischen, seit dem 12. Jahrhundert
eingedeicht worden sind. Zwei ehemalige Eibarme,
die Dove- und die Gose-Elbe durchströmen, mit
dem Ausgang des 15. Jahrhunderts an ihrem oberen
Ende durch Deiche geschlossen, das Ländchen,
das im Perleberger Frieden 1420 von Lauen-
burg an Hamburg und Lübeck abgetreten, nach
447jähriger beiderstädtischer< Verwaltung 1867
Hamburger Gebiet geworden ist.
Die Bewohner sind ein Mischvolk aus allerdings
nahe verwandten Elementen, Holländern und Nieder-
sachsen beider Eibufer, in dem aber das hollän-
dische Blut stark vorwiegt. Klar beweisen das Vor-
namen, wie die Mädchennamen Gesche, Wobke,
Becke, Ancke, Elsche, Mette, Barber, Tiecke, Jan-
thrin, sowie die 'Männernamen Ties, Harm, Hencke,
Theis u. a. m. Das beweisen ferner die alte volks-
tümliche Tracht, der Schmuck u. a. m. Ja, man
möchte sagen, die Landschaft beweise das desgleichen.
Da giebt's z. B. eine Rembrandt'sche Radierung, eine