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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1906)
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Groos, Karl: Unser Bedürfnis nach ästhetischer Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0067

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^lnser keäursnis nack aslkeliscker Rultur

Das Verlangen nach einer Erweiterung und Vertiefung der ästhe-
tischen Bildung in Deutschland ist so mächtig geworden, daß sich die
Frage aufdrängt, warum gerade unsere Zeit dieses Bedürfnis mit
solcher Lebhaftigkeit empfindet. Es ist nicht schwer, hierauf eine Ant-
wort zu erhalten. Meine Bemerkungen werden daher wenig bieten
können, was nicht schon andere gesühlt und ausgesprochen haben.
Dennoch erscheint es mir lohnend, in kurzer, aber zusammenhängen-
der Darstellung zu zeigen, daß die Pflege der ästhetischen Kultur für
uns ein Doppeltes bedeutet: sowohl eine wichtige sittliche Auf-
gabe wie ein Mittel zur Vermehrung unseres Glückes.

Der erste Gedanke läßt sich kurz so sormulieren: Wir haben
erkannt, daß in dem heutigen Deutschland der praktischen Machtentfal-
tung nach außen eine ideale Verinnerlichung der Bildung die Wage
halten muß, wenn wir dem Ziel harmonischen Menschentums treu
bleiben wollen, das unsere klassische Periode aufgestellt hat. Zu dieser
Verinnerlichung unserer Bildung gehört aber neben anderem eine Ver-
tiefung der ästhetischen Kultur. Daher bedeutet die ästhetische Er-
ziehung der Nation gerade sür unsere Zeit eine sittliche Aufgabe von
hoher Wichtigkeit.

Jn ihrem schönen Buche „Osnius loei" erzählt die Engländerin
Vernon Lee, wie sie in einem älteren Teile der Stadt Augsburg
voll Entzücken das frühere, nun entschwundene Deutschland, das
Deutschland ihrer Liebe wiederzusinden glaubte, das köstliche Land,
in dem sich, wie sie sagt, behaglichste Prosa und zärtlichste Schwär-
merei auf so besondere Weise vereinigten. — Es ist wahr: unser
Leben hat sich von Grund aus verändert. Wie ein Sturmwind ist
die von dem Genie Bismarcks eröffnete Epoche über uns gekommen.
Das Behagen sriedlichen Lebensgenusses wie der Zauber der Ro-
mantik wurden von dem Brausen einer neuen Zeit verschlungen.
Praktische Ziele in nüchterner Arbeit und klug vorbereitetem Kampse
verwirklichen — so hieß die neue Losung. Und es ist sür die
Kulturnationen der Erde ein merkwürdiges Schauspiel gewesen, die
Fülle von Begabung und Tatkrast zu betrachten, die sich mit einem
Male diesen neuen Aufgaben zur Verfügung stellte. Wie die Seele
des einzelnen Menschen einen dunklen, rätselvollen Grund von Mög-
lichkeiten in sich birgt, von denen sich nur ein Teil im Leben verwirk-
licht — je nach der Gunst und Ungunst der Stunde, so brechen auch

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