greifen, zu rühren, zu erfreuen und dern empfänglichen Gemüte den
Druck des Lebens abzunehmen. Wenn daher der Moderne für den
religiösen Kultus den ästhetischen der Kunst erwählt und ihm an
Stelle der Kirchenpforten die Türen der Konzertsäle, der Gemälde-
galerien, der Theater fich auftun, so ist er im Grunde ebenfogut
versorgt mit geistigem Lebensgut wie der Fromme früherer Zeiten.
Ja, noch besser; denn ihm strömt zum Genuß ungehindert der Ge-
samtgewinn der Knlturentwickelung zu, mit der fich zurecht- und
abzufinden der Glaube fo viel Not hat.
Daher denn auch wirklich tausende an Fausts Osterfzene fich
mehr erbauen, als es ihnen je in kirchlicher Osterfeier geschehen ist,
vor Böcklins und Klingers Bildwerken stärker vom Hauch des Ueber-
sinnlichen angeweht werden, als wenn ihnen Heilige ihren Himmel
auftäten. und beim Hören von Beethovens oder Bruckners Neunter
sich mächtiger von der Weltidee umtönt fühlen, als wenn ihnen
das Hallelujah der Kirche erklänge.
Aber leider: die Welt der Harmonien vergeht mit den Har-
monien felbst, die herrlichsten Bilder täuschen einen Schein vor,
der, unwirklich, den entzückten Sinnen bald verfchwindet und gar
die Dichtkunst — „welch Schaufpiel, aber ach, ein Schaufpiel nur!"
Darauf besinnt sich der Hochgebildete und fieht mit Tränen
vergeblicher religiöser Sehnsucht die Kunstwelt in dasfelbe Grab
finken, in dem er hatte das Religiöse begraben müssen. Ueber dem
Grabgewölbe steht das trübe Wort geschrieben: Jllufion.
Doch jetzt kommt die Rettung! Flüchtet das enttäufchte religiöse
Bedürsnis in das Wunderreich der Kunst, um abermals getäuscht
zu werden, fo wird ihm jetzt die frohe Botfchaft: Jm Aesthetischen
hast du gerade das Religiöse in seinem wahren Wesen, und zog dir
die Kunst den Glauben ins gleiche Grab, so hilft auch die Kunst
dem Glauben wieder zum Leben, beseelt ihn neu mit ihren Kräften,
und das sröhliche Ostern des sür tod beweinten ist da.
Gewiß, eine srohe Botschast, ein rechtes Evangelium, erfrenlich
auch besonders darum, daß es uns gleichsam wie zur Zugabe auch
mit dem Hochgesühl ersüllt, wieder einmal zu erfahren, wieviel besser
wir auf unserm Gipsel der Kulturentwicklung daran sind, als die
Geschlechter der Vergangenheit aus ihren niedern Stusen, die wir
das Religiöse in seinem wahren Werte ergriffen haben, gereinigt
von allen Schlacken, die ihm bis dahin anhafteten.
Ten Schlacken „prosaner" Wirklichkeit. Denn immer meinte
bisher der religiöse Glaube eines ihm gegebenen Gegenstandes zu
bedürfen, an den er sich halten könnte, eines Unbedingten, dem er
huldigte ohne Schranken und ohne Wanken. Dafür sieht er sich jetzt
in das Reich der frei schasfenden Phantasie verwiesen, mit der Ge-
winn verheißenden Versicherung, ihre Gebilde seien die höhere Wirk-
lichkeit, die er brauchte. Propheten und Heilige sind recht verstanden
Dichter, und die Dichter treten mit ihnen in eine Reihe.
Treuestens gesagt: eine einsache Lösung des unsrer Kulturwelt
so schwer aufliegenden Problems; denn auf diese Weise ist das Reli-
giöse an eine Küste gerettet, wo es von keiner Historie und von
N8
Kunstwart XIX, so
Druck des Lebens abzunehmen. Wenn daher der Moderne für den
religiösen Kultus den ästhetischen der Kunst erwählt und ihm an
Stelle der Kirchenpforten die Türen der Konzertsäle, der Gemälde-
galerien, der Theater fich auftun, so ist er im Grunde ebenfogut
versorgt mit geistigem Lebensgut wie der Fromme früherer Zeiten.
Ja, noch besser; denn ihm strömt zum Genuß ungehindert der Ge-
samtgewinn der Knlturentwickelung zu, mit der fich zurecht- und
abzufinden der Glaube fo viel Not hat.
Daher denn auch wirklich tausende an Fausts Osterfzene fich
mehr erbauen, als es ihnen je in kirchlicher Osterfeier geschehen ist,
vor Böcklins und Klingers Bildwerken stärker vom Hauch des Ueber-
sinnlichen angeweht werden, als wenn ihnen Heilige ihren Himmel
auftäten. und beim Hören von Beethovens oder Bruckners Neunter
sich mächtiger von der Weltidee umtönt fühlen, als wenn ihnen
das Hallelujah der Kirche erklänge.
Aber leider: die Welt der Harmonien vergeht mit den Har-
monien felbst, die herrlichsten Bilder täuschen einen Schein vor,
der, unwirklich, den entzückten Sinnen bald verfchwindet und gar
die Dichtkunst — „welch Schaufpiel, aber ach, ein Schaufpiel nur!"
Darauf besinnt sich der Hochgebildete und fieht mit Tränen
vergeblicher religiöser Sehnsucht die Kunstwelt in dasfelbe Grab
finken, in dem er hatte das Religiöse begraben müssen. Ueber dem
Grabgewölbe steht das trübe Wort geschrieben: Jllufion.
Doch jetzt kommt die Rettung! Flüchtet das enttäufchte religiöse
Bedürsnis in das Wunderreich der Kunst, um abermals getäuscht
zu werden, fo wird ihm jetzt die frohe Botfchaft: Jm Aesthetischen
hast du gerade das Religiöse in seinem wahren Wesen, und zog dir
die Kunst den Glauben ins gleiche Grab, so hilft auch die Kunst
dem Glauben wieder zum Leben, beseelt ihn neu mit ihren Kräften,
und das sröhliche Ostern des sür tod beweinten ist da.
Gewiß, eine srohe Botschast, ein rechtes Evangelium, erfrenlich
auch besonders darum, daß es uns gleichsam wie zur Zugabe auch
mit dem Hochgesühl ersüllt, wieder einmal zu erfahren, wieviel besser
wir auf unserm Gipsel der Kulturentwicklung daran sind, als die
Geschlechter der Vergangenheit aus ihren niedern Stusen, die wir
das Religiöse in seinem wahren Werte ergriffen haben, gereinigt
von allen Schlacken, die ihm bis dahin anhafteten.
Ten Schlacken „prosaner" Wirklichkeit. Denn immer meinte
bisher der religiöse Glaube eines ihm gegebenen Gegenstandes zu
bedürfen, an den er sich halten könnte, eines Unbedingten, dem er
huldigte ohne Schranken und ohne Wanken. Dafür sieht er sich jetzt
in das Reich der frei schasfenden Phantasie verwiesen, mit der Ge-
winn verheißenden Versicherung, ihre Gebilde seien die höhere Wirk-
lichkeit, die er brauchte. Propheten und Heilige sind recht verstanden
Dichter, und die Dichter treten mit ihnen in eine Reihe.
Treuestens gesagt: eine einsache Lösung des unsrer Kulturwelt
so schwer aufliegenden Problems; denn auf diese Weise ist das Reli-
giöse an eine Küste gerettet, wo es von keiner Historie und von
N8
Kunstwart XIX, so