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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

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Heft 16 (2. Maiheft 1906)
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Lesekultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0190

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I^esekullur

Zu keiner Zeit ist so viel gelesen worden, wie heute. Mit
Bibel und Lesebuch sängt man an, mit der Abendnummer der
Neuesten Nachrichten hört man aus, geht schlafen und stirbt schließ-
lich. Könnte aber solch ein vielbelesener Geist auf dem Wege zur
Ewigkeit ausgesragt werden: was denn nun den Extrakt seiner Lese-
weisheit ausmache, den er aus dem Diesseits wohl mitnehmen möchte
ins unbekannte Land, wie viel wär' es wohl? Die Erinnerung
an ein paar Dutzend Bücher vielleicht, die ihm zu Erlebnissen ge-
worden sind.

Diese Erkeuntnis ist uicht neu. Jmmer wieder hat man ver-
sucht, ihre praktischen Folgerungen zu ziehn. Wenn der englische
Natursorscher Lubbock als einer der ersten Hausapotheker der Lese-
kunst hundert Bücher als die besten zur ausschließlichen Lektüre emp-
sahl; wenn iu Frankreich Comte mit seiner Liste von sünshundert
Bänden, wenn Emerson mit seiner wunderlichen Auswahl ihren Lesern
zu einer gedeihlichen Diät verhelsen wollten, so wollten sie alle
dasselbe: den Wißbegierigen zu dem hinleiten, was ihm sür sein
Wesen etwas geben und gleichzeitig sein Gedächtnis so wenig wie
möglich besrachten möge. Ebenso Goethe: „Man liest viel zu viel
geringe Sachen. . . Man sollte eigentlich immer nur das lesen,
was man bewundert, wie ich in meiner Jugend tat. . ." Grade
von Goethe aber wissen wir, daß er bis in die letzten Lebenstage
hinein einen ganz ungeheuren Lesefleiß entwickelte nnd kaum einen
Tag vergehen ließ, ohne seinen Oktavband zu erledigen. ' Demnach
muß das Beschränken doch nicht so einsach sein.

Zunächst, glanbe ich, wird grade der gescheiteste Mensch im
Aerger über all die Umwege am leichtesten geneigt sein, zu über-
sehen, daß er aus diesen Umwegen doch immerhin einiges gefunden
hat. Früchte, Blumen, auch nur Reisig oder Steine, die er bald
wegwars, nachdem er sie ausgenommen hatte, wohl, die ihn aber
doch eine Spanne lang interessierten, und bekanntlich läßt in unsrer
Seele alles einen Eindrnck zurück, was einmal von ihr, und war
es auch noch so slüchtig, im Vorübergehen beachtet ward. Bei aus-
gedehnten Beschästigungen summiert sich dann das einzelne. Du hast
dein Griechisch und dein Latein, deine Mathematik nnd deine Ge-
schichte vom Gymnasium her, du hast deine Logik nnd deine Pshcho-
logie von der Universität her längst vergessen, wenn du ein alternder
Herr bist, der mit jenen Dingen nicht sachmännisch mehr in Be-
ziehung blieb, und doch ist's, als hätten die verzogenen Herrscher

2. Ataiheft W06
 
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