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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,1.1911

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1911)
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Avenarius, Ferdinand: Reizhungergeist
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https://doi.org/10.11588/diglit.9028#0015
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Iahrg.25 Erstes Oktoberheft 1911 Heft I

Reizhungergeist

^^v^ald, weiter, dichter Wald, und kein Weg. Aber der hier
D ^schreitet, ist nicht besorgt, denn er hat Karte und Kompaß. Da
ist Nordwesten, dahin geht's, zwar nicht schnnrgerade dick-
köpsig durchs Dickicht, sondern hier um einen umbuschten See, dort
um einen Felsenhang herum. Gerade wer schnell und sicher vorwärts
will, wird manchmal Umwege machen müssen. Umwege macht er auch
sonst, er will ja genießen. Hier lockt's ihn nach einem schönen Baum,
dort nach einem Ausblick, dort nach einer funkelnden Blume. Karte
und Kompaß — er kommt doch immer wieder in seine Richtung. Wie
weit er noch hat, das weiß er nicht, aber er weiß: am Abend wird er
im Dorf unter Dach, und am nächsten Tage ein Stück weiter nach
seinem eigentlichen Ziel hin sein. Kinder würden's ja anders treiben.
Die liefen hier nach dieser Blume — „nein, ist das schön!", dort
nach jener — „aber die ist noch schöner!« Aber dem, was sie eben
finden, wäre immer schnell das vorher Gesundene vergessen. Mit
allem spielten sie, bis sie's satt HLtten, dann suchten sie halt wieder
was andres zum Spielen und sänden, das allerschönste sei doch das.
Ob sie dabei aus dem großen Wald überhaupt heraus kämen, ist
zweiselhast, daß sie's an der richtigen Stelle täten, höchst unwahr-
scheinlich. Ich fürchte, das Ende von ihren schönen Liedern wäre:
wenn's dunkel würde, singe das Weinen an.

Dieses Bildchen ist nun ein Vergleich und ist auch wieder mehr
als ein Vergleich, nämlich einsach ein Beispiel. So wie der Mann
macht's ja der Reise im körperhaften Wald, macht er's aber im geisti-
gen Leben auch. Was im Walde Karte und Kompaß, das sind im
geistigen Leben seiner Mitmenschen Erfahrungen und sein eignes
Verständnis. Alles wesentliche Neue, das ihm entgegentritt, nimmt
er auf und genießt es, und wo's ihm was für den Weiterweg sagen
kann, da hört er darauf. Aber was er an Erfahrungen vorher schon
gehabt hat, das wird ihm dadurch nicht entwertet, weder in dem,
was es an Schönheit gab, noch an dem, was es ihm für seinen
Weiterweg sagt. Immer das Neueste für das Schönste halten und
immer von der Richtung abkommen und so im Kreise herumlaufen
und schließlich klagen: es geht nicht vorwärts, das tun die Kinder.
Die kleinen und die großen, bei denen man das Klagen, es gehe
nicht vorwärts, fürnehmer „Pessimismus" nennt.

Solche Blumenplätze der Zivilisation, nach denen die Kinder laufen,
nicht wahr, die kennen wir alle? Die Blumen sehn da beispielsweise
aus wie Poiretsche Turbane oder wie ein Notenstrauß von De-
bussy oder meinethalben wie ein Buch gleich dem „Gefährlichen Alter"
oder wie Sdipus im Zirkus. Lauter anregende Sachen, aber für die
Nnreifen sind sie die Lösung. Denn immer das eben erreichte
Stellchen hat das Schönste, immer das mit dem Neuesten, immer
das mit der Nouveauts.

Wir haben oft von dem Nouveautswesen gesprochen, das, heute

s. Oktoberheft Gft l
 
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