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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,1.1911

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1911)
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Avenarius, Ferdinand: Michelangelo
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https://doi.org/10.11588/diglit.9028#0476
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Iahrg. 25 Zweites Dezemberheft 1911 Heft6

MicheLangelo

roß, daß er über dein Gewimmel einsam ist und über das Kleine
> ^t^zurückblickt in uralte Vergangenheiten und voraus bis in Zu-
^--^künfte, die auch wir Heutigen noch nur in den Lichtwolken
ahnen — so erscheiut Michelangelo unsrer Phantasie. Aber der
Boden, aus dem er emporwuchs, stand nicht fest, so scheint es uus,
er wandelte sich selber zu jener Zeit, da der Riese sich aus ihm hob.
Er war in so mächtigem und so allgemeinem Bewegen, wie seit
langen Iahrhunderten nicht. Wer das damalige Gären des Menschen-
geistes die Renaissance nennt, sieht die Zeit nur durch eineu Rahmen,
der künstlich gemacht ist, um ein Bild von ihr abzusondern, wie man
mit gleichem Fug andre dasür aus Worten zimmern und schnitzen
könnte. Denn es war in diesen Tagen alles Menschliche, von
draußen durch Morgenwinde neuer Erkenntnisse, von drinnen durch
das Erwachen schlasender Triebe so stark erregt, daß von daher ein
Fluten noch durch unsre Gegenwart hin unberuhigte Kräste ins
Kommende trägt.

Wenn je eine Zeit die des Umwertens war, so war es ja sie.
Ls ist nur eine der Umwertungen, auf die das Wort „Renaissance"
selber weist, und wenn Träumen und Schwärmen fürs Altertum
schon ein Höherwerten bedeutet, so war gerade dieses Ideal nicht
einmal ganz neu. Run aber war seine Krast so wirkend geworden,
daß man an ein Wiederheraufholen des Altertums dachte, bei vielen
sogar des Heidnischen darin. Wäre das möglich gewesen ohne all die
andern Umwertungen sonst, ohne diese Lust am Umwerten, ohne diese
Freude des Intellekts am Zerlegen, Entdecken. Erkennen und der
Phantasie am Anderszusammensetzen und Neugestalten? Alles Feste
schien zu schmelzen. Die Persönlichkeit, gebunden bisher in Standes-
und Staatsordnung, Aberlieferung, Sitte und Religion, besreite sich
zum Bewußtsein eigenbürtigen Rechts, zum Streben nach Ausbildüng
all ihrer Kräfte, und lenkte ihr Sehnen vom Gnadenreiche des Him-
mels abseits auf die selbst zu erringende Ilnsterblichkeit des Erden--
ruhms. Dazu ward die Welt größer mit jedem Tag. WLHrend aus
den Steinhaufen der Ruinen, aus den Höhlen der Ausgrabungen,
aus dem Staub vergessener Klostertruhen geist--, ja körperhaft die
Welt heraufstieg, mit der man die Gegenwart latinisieren wollte,
brachten Reisen in die Ferne Kunde von ungekanntem Erstaunlichen
und öffneten Reisen in die Nähe das Auge den Schönheiten der
Natur, wagte man am Menschenleibe zu forschen, erkannte man die
Erde als Gestirn und die Gestirne als Lrden, zeigte sich schier alles
neu, was man nur ansah. Zugleich lernte man, das verkündende,
verständigende und kämpfende Wort mit dem Druck wegzuschicken
und herzurusen. Aber das alles warf die alten Aberlieferungen nicht
aus der Welt, auch nicht aus der Welt der Gebildeten. Die Lußeren
Gewalten der Kirche und des Staates, wie geschüttelt auch, sie standen
fest, und so walteten auch noch die seelischen Kräste, die anderthalb

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